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3.1 Historischer Kontext

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Das Leben von Jean-Jacques Rousseau deckt sich fast mit der Regentschaft Ludwigs XV. (1715–1774). Unter dessen Vorgänger Ludwig XIV. erreicht der zielgerichtete Aufbau der absolutistischen Macht seinen Höhepunkt. Nach außen sind die Grenzen abgesichert, neue Territorien werden unmittelbar oder als Kolonien dem Staatsgebiet einverleibt, ein intaktes Heer sichert auch nach innen die staatliche Autorität und Ordnung, die Wirtschaft wird staatlich gefördert (Merkantilismus), ebenso Wissenschaft und Kultur. Die französische Hofhaltung wird zum Vorbild in ganz Europa. Der Verstaatungsprozess erfährt im 16. Jahrhundert in Frankreich einen ersten modellhaften Durchbruch: Aufbau eines organisierten Staatsapparates, Errichtung von Zentralverwaltungsbehörden mit einer Beamtenschaft, Etablierung des Militärwesens mit stehendem Heer, Ausgestaltung eines (Staats-) Wirtschaftssystems, Aufbau des Justizwesens sowie Aufrichtung eines Staatskirchensystems. Doch die Eroberungskriege lassen zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Staatsschulden anwachsen, das Land ist erschöpft, militärische Niederlagen sind die Folge, der Seehandel bricht zusammen, die inneren Auseinandersetzungen wachsen. Das absolutistische System erweist sich als reformunfähig und den neuen geistigen und sozialen Herausforderungen nicht gewachsen. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts übernimmt England, der Kontrahent Frankreichs, die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft in der Welt. Die merkantilistische Wirtschaftspolitik der absolutistischen Herrscher lässt zwar das Handwerk und die – in ersten Ansätzen vorzufindende – industrielle Produktion aufblühen. Doch noch immer bilden Grund und Boden die Hauptquelle für den Reichtum und den Wohlstand der wenigen Adligen, die darüber verfügen. Die Bauernfamilien machen etwa zwei Drittel der Bevölkerung aus. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung verfügt über kein eigenes Land, arbeitet (z.T. als Leibeigene) für die Großgrundbesitzer und ist arm. Die veraltete Feudalordnung des „Ancien Régime“ löst zunehmend in allen Ständen Unzufriedenheit und soziale Spannungen aus, zumal die Aristokraten zumeist einen sehr aufwendigen Lebensstil (Barock) vorführen und über eine Vielzahl von Privilegien verfügen, die zu Lasten der übrigen Bevölkerung gehen. Trotz der kriegerischen Auseinandersetzungen im 17. und 18. Jahrhundert wächst in Frankreich wie in den anderen Ländern die Bevölkerung, auch die Zahl der Städte nimmt zu.

Als Barock bezeichnet die Kunstgeschichte den bis Mitte des 18. Jahrhunderts gerade auch in Frankreich sich ausbildenden Stil in der Kunst, in der Literatur und in der Musik. Der Hang zur Übersteigerung und zu kühner Bildhaftigkeit, die Betonung von Kraft und Dynamik, das reiche, symbolträchtige Schmuckwerk, die Spannung von Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit, Diesseitsfreude und Jenseitssehnsucht, inbrünstigem Weltgenuss und höfischer Zucht sind einige der Kennzeichen des Kunst- und Lebensstils der Gegenreformation und des Absolutismus. Er wird im 18. Jahrhundert von der Aufklärung abgelöst. Auch hier spielt Frankreich neben England und Deutschland eine zentrale Rolle. Ihr Kennzeichen ist das Bewusstsein zunächst von wenigen einzelnen Protagonisten, dass die menschliche Vernunft das Wesen des Menschen ausmacht und daher den allgemeingültigen Wertmaßstab für alle menschlichen Tätigkeiten und Lebensverhältnisse in sich enthält. Deshalb lassen sich daraus auch Grundsätze für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens und die Kultur ableiten. Die Aufklärung durchwirkt als machtvolle Geistesbewegung fast alle kulturellen Bereiche: die Geschichtsauffassung (Fortschrittsglaube), das Rechts- und Staatsleben und die Verfassungslehre (Naturrecht, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Staatsaufbau auf der Grundlage von Vereinbarungen), das Erziehungswesen (Erziehung zu naturgemäßer, von der Vernunft bestimmter sittlicher Lebensweise, Erziehungsanspruch für alle Schichten), die Theologie und Religion (Kampf gegen dogmatische und kirchliche Bevormundung, Säkularisation, Wissenschaftsgläubigkeit) und die Philosophie (Rationalismus, Empirismus). Diese neue Weltanschauung fördert die (Natur-)Wissenschaften (vgl. etwa Isaac Newton), die zahlreiche Entdeckungen machen (Wahrscheinlichkeitsrechnung, Wellentheorie des Lichts, Samenfäden, natürliches System der Lebewesen, Zuckergehalt der Rübe, Wasserstoff, Sauerstoff usw.) und technische Erfindungen hervorbringen (Quecksilberthermometer, Thermometereinteilung, Porzellan, Gussstahl, Eisenwalzwerk, Spinnmaschine, Dampfmaschine usw.). Die Folgen der Verstaatung zeigen sich nicht nur in den wissenschaftlich-technischen Fortschritten und in den Veränderungen des Weltbildes, sondern auch darin, dass die Bürokratie und die Wirtschaftspolitik ein kapitalkräftiges Bürgertum hervorbringen, das heißt, sie verändern die gesellschaftlich-sozialen Strukturen. Auf dieser Grundlage mündet die Besinnung auf die Vernunft bei den Bürgern in eine Kritik an den herrschenden Machtverhältnissen und der geistigen Unfreiheit beziehungsweise in Forderungen nach wirtschaftlicher Liberalisierung, politischer Partizipation, religiöser Toleranz und sozialer Gleichheit. Neben Aufklärern in England (John Locke, David Hume) sind es in Frankreich die Enzyklopädisten (Denis Diderot, François-Marie Voltaire, Charles-Louis Montesquieu, Jean- Jacques Rousseau), die an den herrschenden Zuständen scharfe Kritik üben und damit nachhaltig die öffentliche Meinung beeinflussen. Das wachsende Selbstbewusstsein führt zu zahlreichen Konflikten und Aufständen. Bürger, Bauern, Industriearbeiter und die Armen in Stadt und Land wehren sich zunehmend gegen soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung. Am Ende des Jahrhunderts steht die Französische Revolution (1789).

Genf, wo Rousseau geboren wird und einen Teil seines Lebens verbringt, gehört bereits seit dem Jahre 1526 zur alten Eidgenossenschaft (Schweiz), die sich 1648 von der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich auch formell befreit hat. Sie besteht im 17. Jahrhundert aus 13 Orten (Kantonen), die ihre Angelegenheiten weitgehend selbstständig regeln. Ihre außenpolitische Neutralität resultiert vor allem aus den Verfahrensschwierigkeiten, sich für ein gemeinsames Vorgehen (Außenpolitik) abzustimmen, sowie aus dem Umstand, dass die Eidgenossenschaft konfessionell gespalten ist. Während die Reformation sich im 16. Jahrhundert in der deutschen Schweiz nur teilweise durchsetzen kann, siegt sie in der Westschweiz mit Genf als Zentrum des Calvinismus, in dem von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1798 jeder katholische Gottesdienst untersagt ist. Von 1798 bis 1814 gehört Genf zu Frankreich. Turin, wo sich Rousseau ebenfalls zeitweise aufhält, ist der Mittelpunkt des zum Deutschen Reich gehörenden Herzogtums Savoyen-Piemont. Als Folge des Spanischen Erbfolgekrieges werden dem Herzogtum 1713 große Gebiete (unter anderem das Königreich Sardinien) zugeschlagen. Dies lässt das Herzogtum zu einem wichtigen politischen und kulturellen Faktor in Oberitalien werden.

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