Читать книгу Theorien der Sozialen Arbeit - Christian Spatscheck - Страница 29

2.5 Theorie

Оглавление

Vives steht mit seinen Grundannahmen und -aussagen auf christlichem, das heißt katholischem Boden, kennt und folgt in vielem den Thesen von Thomas von Aquin. Seine Argumentation basiert in der Regel auf Zitaten aus den hl. Schriften und mitunter auch auf Auszügen aus den Werken griechischer und römischer Philosophen und Schriftsteller (Aristoteles, Plato, Cicero u. a.).

(1) Paradies und Sündenfall: Die Welt und die Menschen sind von Gott geschaffen und darum von Natur aus gut. Die Menschen haben aber ihre von Gott gegebene Freiheit missbraucht und gesündigt; deswegen mussten sie das Paradies verlassen. Mit dem Sündenfall ist die menschliche Vernunft verdunkelt und sind die Triebe entfesselt worden. Trotz des Sündenfalls existieren weiterhin die natürlichen und vernünftigen Grundlagen für das Leben. Das menschliche Leben ist auf ein transzendentes Ziel ausgerichtet, nämlich auf die Gemeinschaft mit Gott im ewigen Leben. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Mensch das „einzige und wahre Gut“ anstreben. Die „größte Wohltat ist es …, wenn man anderen zur Tugend hilft“ (Vives 2006, 267). Der Mensch kann nicht existieren, wenn er allein auf sich gestellt ist; er bedarf der Hilfe anderer und muss seinerseits anderen helfen. Das diesseitige gesellschaftliche Leben baut auf der vernünftigen Grundlage der gegenseitigen Hilfe auf. Die Verdorbenheit der Menschen infolge der Erbsünde (insbesondere Habgier, Herrschsucht und Hochmut) führt die Menschen aber immer wieder vom vernünftigen Weg ab. Statt sich in Frieden und Eintracht zu unterstützen, bekämpfen und berauben sie sich gegenseitig. Die Aufgabe der Kirche ist es, den Menschen in den Sakramenten Gnade zu vermitteln, durch die erst die naturgegebenen Formen der Gesellschaft erfüllt werden können. Die christlichen Tugenden, vor allem die Liebe, vollenden das menschliche Zusammenleben in Frieden.

Vives – ganz Humanist – nimmt auch für die Zeit nach dem Sündenfall ein Zeitalter an, in dem die Menschen kraft vernünftiger Einsicht miteinander in Frieden und Freundschaft gelebt, gearbeitet und sich gegenseitig unterstützt haben. Dieses gelang – für Vives – den Menschen allein dank natürlicher ethischer Motivation, also ohne Hilfe Gottes und der Kirche. Allein ihre Vernunft habe sie nach Vives dazu befähigt, eine Gesellschaft in Liebe und Eintracht (amor et concordia) zu schaffen. Diese ideale Gesellschaft ist für Vives das Gegenbild der Gesellschaft, die er in der Realität vorfindet. Die harmonische Gesellschaft wird seiner Meinung nach durch die menschliche Begierde, die anderen zu überragen und zu unterdrücken, von der Arbeit anderer zu leben und die übrigen Menschen zu befehligen, zersetzt. Diese menschlichen Laster zerstören für Vives die menschlichen Beziehungen. Die Aufteilung in Arme und Reiche, Unterdrückte und Mächtige in einer Stadt oder in der Gesellschaft ist für ihn das Ergebnis von Habgier und Herrschsucht der Menschen. Diese Welt spiegelt keine göttliche Ordnung wider, sondern Chaos.

(2) Arbeiten und Helfen: Der Mensch ist als Geschöpf Gottes von Natur aus gut und untersteht dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Die christliche Nächstenliebe ist für Vives der tragende Grund und ihre Steigerung das letzte Ziel aller Armenpflege, der öffentlichen wie der privaten:

„All das (d. h. alle Vorteile, die bei der Durchführung seiner Vorschläge erreicht würden, die Verfasser) übertrifft aber der Zuwachs der gegenseitigen Liebe, der aus den schlicht und ohne Verdacht der Unwürdigkeit (der Empfänger, die Verfasser) gegebenen Wohltaten entstehen wird; ebenso der himmlische Lohn, der wie wir gezeigt haben, aus den Almosen erwächst, die aus Liebe gegeben werden“ (a. a. O., 319).

Menschliches Helfen ergibt sich aus dem christlichen Hauptgebot der Liebe. Unabhängig von dem göttlichen Liebesauftrag nimmt Vives beim Menschen natürliche Triebe, zu arbeiten und zu helfen, an. Beide Triebe sind dem Menschen angeboren. Arbeiten und Helfen sind innerweltliche Werte. Wer anderen Menschen hilft, der handelt naturgemäß und erlebt ein tiefes Wohlgefühl dabei. Der nach dem Sündenfall aus dem Paradies vertriebene Mensch muss sich seinen Lebensunterhalt selbst erarbeiten. Insofern ist die Arbeit für Vives religiös gesehen eine Strafe Gottes und doch zugleich eine natürliche Lebensnotwendigkeit für jeden Menschen. Das Arbeiten erhält einen eigenen Wert: Die Menschen sind von Natur aus auf das Arbeiten angelegt und empfinden Freude an der Arbeit. Bei faulen Menschen ist diese Anlage verschüttet. Es ist eine Aufgabe der Erziehung, diese Anlage wieder freizulegen. Arbeiten, um Gewinn zu maximieren, lehnt Vives ab, da dieses Arbeitsziel ein Ergebnis menschlicher Habgier sei.

Wenn eine Gesellschaft in Liebe und Eintracht mit vernünftigen Mitteln in der Vergangenheit der Menschen erreichbar ist, dann kann es nicht sinnlos sein, das Gleiche wieder für die Zukunft anzustreben. Aus dieser Annahme speisen sich für Vives der Glaube an den menschlichen Fortschritt und die Hoffnung, durch Erziehung die Menschen von den Lastern abzuhalten. Trotz dieser Auffassung bleibt Vives aber äußerst skeptisch gegenüber dem Menschen und seiner Bereitschaft und Fähigkeit, den Nächsten zu lieben und ihm zu helfen.

(3) Die Armenpflege: Alle menschliche Not und Armut sind für Vives eine Folge des Sündenfalls, resultieren also aus der grundsätzlichen moralischen Verdorbenheit der Menschen. Daher kann die Armut auch nicht grundsätzlich beseitigt werden; sie bleibt in der Welt. Vives beruft sich dabei auf das Jesuswort: „Arme habt ihr allzeit bei euch. Math. 26, 11“ (vgl. a. a. O., 309).

Für die Armut des Einzelnen nennt Vives viele Gründe, führt sie aber letzten Endes auf den unerforschlichen Ratschluss Gottes zurück oder spricht von Schicksal, das in Demut zu ertragen ist.

Obwohl Vives sich bewusst ist, dass die Armut nicht generell zu beseitigen ist, strebt er dennoch mit seinen Überlegungen an, dass es in seiner Heimatstadt keine Armen mehr gibt. Durch private und öffentliche Wohltätigkeit will er zumindest für Brügge erreichen, dass die Armen aus ihrem traurigen und unglücklichen Zustand befreit werden. Das Ideal einer städtischen Gesellschaft ohne Arme ist durch gezielte und geplante Maßnahmen in der städtischen Armenpflege anzustreben. Diese Maßnahmen basieren auf den schon genannten anthropologischen und theologischen Grundannahmen von Vives.

Pädagogische Förderung und materielle Unterstützung sollen sich nach Vives ergänzen. Die Armenpflege ist für ihn Sache des christlichen Staates und nicht der Kirche, denn diese ist ihm zu sehr „verweltlicht“ und zu „selbstsüchtig“ in der Verwaltung der Armengüter. Die Priester, Mönche und Bischöfe würden das Geld der Kirche, das den Armen gehört, für Luxus und Pomp verschwenden.

„Wenn die Äbte und andere kirchliche Obern wollten, könnten sie bei ihren großen Einkünften die meisten Armen versorgen. Falls sie nicht wollen, wird Christus sie strafen. Doch ist nie Aufruhr und Bürgerkrieg erlaubt. Da sie schlimmer sind als der Missbrauch von Armengeldern“ (a. a. O., 307).

Die einzelnen Maßnahmen der städtischen Armenpflege gruppieren sich um drei Forderungen:

a) Alle Armen müssen – wie alle anderen Menschen auch – arbeiten.

b) Die Unterstützung der Armen hat sich jeweils am Einzelfall zu orientieren.

c) Die Armen müssen zu einem sittlichen Leben erzogen werden.

(4) Arbeitspflicht für alle: Vives entdeckt bei seinen Beobachtungen, dass die Armen in Brügge nicht arbeiten, sondern sich ihren Lebensunterhalt durch Betteln, mitunter auch durch Stehlen erwerben. Die Armen scheuen offenkundig die Arbeit. Für Vives gehört das Arbeiten aber zu den natürlichen Pflichten des Menschen; alle Menschen sind zur Arbeit verpflichtet, auch die Armen. Das Betteln lehnt er grundsätzlich ab; es widerspricht seiner Auffassung nach der Anlage des Menschen. Vives nimmt konsequenterweise kranke, alte und gebrechliche Arme mit in die Arbeitspflicht hinein. Sie sollen so viel und das tun, was ihnen möglich ist. „Nichtstun“ ist allgemein verboten. Die Arbeitsfähigkeit der einzelnen Armen ist von Ärzten zu prüfen und zu dokumentieren. Alle arbeitsfähigen Armen müssen sich Arbeit besorgen, damit sie arbeiten und sich und ihre Familien ernähren können (vgl. a. a. O., 301–305).

Ziel des Unterstützungsplans von Vives ist es, die Armen langfristig mit Arbeit zu versorgen, um so die Armut dauernd zu beseitigen. Folglich entwickelt Vives ein differenziertes Programm zur Arbeitsbeschaffung. Jugendliche arbeitsfähige Arme sollen einen Beruf erlernen, am besten ein Handwerk, um dann in einer Werkstatt zu arbeiten oder sich gar selbstständig machen zu können. Erwachsene arbeitsfähige Arme, die schon einen Beruf erlernt haben, sollen wieder in ihre alte Berufstätigkeit zurückgeführt werden. Wenn für diese Armen aufgrund des Alters oder der Krankheit eine handwerkliche Tätigkeit nicht mehr infrage kommt, dann müssen andere, einfachere Formen der Arbeit gefunden werden, die sie leisten können, um auch sie auf Dauer der Unterstützungsbedürftigkeit zu entziehen. Dabei denkt Vives auch an so einfache Arbeiten wie Wasser aus dem Brunnen schöpfen und in die Häuser tragen. Es kommt ihm nicht auf den wirtschaftlichen Nutzen der Tätigkeit an, sondern auf die konsequente Durchführung der Arbeitspflicht.

Vives geht grundsätzlich davon aus, dass die Armen freiwillig arbeiten, wenn sie nur Gelegenheit dazu bekommen und darin durch Erziehung unterstützt werden. Er rechnet aber auch mit „verkommenen“ Armen, die sich jeder Arbeit gegenüber verweigern. Diese Verweigerer sind zu harter und mühseliger Arbeit zu zwingen und karg zu ernähren. Eine solche Zwangsbehandlung soll andere abschrecken und zur freiwilligen Arbeit animieren; außerdem soll sie die „arbeitsfaulen“ Armen durch körperliche Schwächung daran hindern, wieder in ihr altes lastervolles Leben zurückzukehren. Über die konkrete Form der Zwangsarbeit sagt Vives nichts weiter aus. Vives geht davon aus, dass Arbeitsstellen für die Armen nicht ohne Weiteres zur Verfügung gestellt werden. Deshalb soll die städtische Obrigkeit eingreifen, um die erforderlichen Arbeitsstellen zu beschaffen, falls die Produzenten und Handwerksmeister nicht freiwillig bereit sind, arbeitsfähige Arme aufzunehmen. Einzelnen Handwerksmeistern soll eine bestimmte Zahl von Armen zur Arbeit zugewiesen werden, die selbst keine Arbeitsstelle finden können. Handwerksmeister, die Arbeiter und Lehrlinge aufnehmen (mussten), sollen bei der Vergabe von Aufträgen durch die Stadt und kirchliche Einrichtungen bevorzugt behandelt werden. Die Stadt selbst soll ihrerseits Stellen für arbeitsfähige Arme schaffen beziehungsweise die Armen bei der Besetzung von Stellen besonders berücksichtigen. Vives legte aus pädagogischen Gründen Wert darauf, dass die Stadt keinen festen Unterstützungsfonds für die Armen in ihrem Etat einrichtet. Den Armen soll jede wirtschaftliche Absicherung verwehrt werden, damit der Arbeitswille und die Bereitschaft, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, geweckt werden und wach bleiben (vgl. a. a. O., 310).

(5) Materielle Unterstützung in besonderen Notlagen: Trotz der Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung – so meint Vives – wird es auch weiterhin Arme geben, die sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst durch Arbeit erwerben können. Die besondere Notlage dieser Armen ist von Beauftragten der Stadt zu untersuchen und ihre Unterstützung an den individuellen Untersuchungsergebnissen auszurichten. Alle Armen sind in ein Verzeichnis einzutragen; erfasst werden sollen alle Armen, sowohl diejenigen, die in Hospitälern der Kirche und der Stadt untergebracht sind, als auch die Hausarmen und die umherziehenden Armen. Mit dem Armenverzeichnis soll weder eine armenpolizeiliche Kontrolle noch die Absonderung der Armen, sondern eine planmäßige Versorgung der Armen mit Arbeit und Unterstützungsmitteln ermöglicht werden. Die Notlage, die Art ihres früheren Lebensunterhaltes, der Anlass ihrer Verarmung, die Lebensart, die Moral und die Arbeitsfähigkeit sollen genau festgestellt und in das Verzeichnis eingetragen werden. Diese Angaben sollen eine individuelle Förderung ermöglichen. Es sollen die Heilmittel angewendet werden, die am besten helfen. In den psychisch kranken Menschen, die damals als gemeingefährliche Irre angesehen und eingesperrt werden, sieht Vives ebenfalls arme Menschen, die es zu unterstützen und zu behandeln gilt.

Der Geber von Almosen hat seine Hilfe nach seiner eigenen Lage abzuwägen; er bestimmt, was, wieviel und wann er geben will. Dennoch ist die Aufmerksamkeit vor allem auf die Notsituation des Armen zu richten, die ja die Voraussetzung für jede Hilfe ist. Aus der Art der Notlage ergibt sich für den Geber, was nützlich ist; nach der Notlage sind Art, Umfang und Zeitdauer der Unterstützung zu richten. „Jeder soll in passender Weise behandelt werden“ (a. a. O., 304).

(6) Erziehung der Armen und ihrer Kinder: „Wir müssen nicht darauf sehen, was einer haben will, sondern was er haben muss, nicht darauf, ob es ihm gefällt, sondern ob es ihm nützt“, sagt Vives und setzt seine pädagogischen Überlegungen auf zwei Ebenen an, der übernatürlichen und der natürlichen Ebene (vgl. Vives 2006, 315). Man kann auch von einer theologischen und von einer anthropologisch-pädagogischen Ebene sprechen. Die Menschen haben sowohl den übernatürlichen Auftrag als auch den natürlichen Trieb zu helfen. Es ist Aufgabe der Kirche, das Gebot der Nächstenliebe zu verkünden, und es ist Aufgabe der Pädagogen, die Menschen zu einem guten Leben zu erziehen. Mit dem Erziehungsauftrag gegenüber den Armen und ihren Kindern integriert Vives seine Gedanken zur Armenpflege in seine gesamte pädagogische Theorie: Aufgabe der Pädagogen ist es, zu einem sittlichen Leben zu erziehen, indem der Weg des Lasters gemieden und der Weg der Tugenden gegangen wird (a. a. O.). Die Menschen sollen moralisch gefördert und zu guten Bürgern und frommen Christen erzogen werden. Besondere Aufmerksamkeit erhält die Erziehung der Kinder zur Arbeit. Die Stadt soll „jährlich 2 ernste und bewährte Männer zu Zuchtherren einsetzen“, die das Leben und die Sitten der Armen und ihrer Kinder, aber auch die Kinder der Reichen überwachen und darauf achten, dass sie zur Schule gehen und die nötige Erziehung erhalten (a. a. O., 306). In der Erziehung der Armen und aller Kinder sieht Vives den einzig brauchbaren Weg, Armut in der Gesellschaft erfolgreich zu verhindern. Diese optimistische Sicht der Erziehung steht in krassem Gegensatz zu seiner pessimistischen Einschätzung der Fähigkeiten und Bereitschaft des Menschen, sittlich gut zu leben. Die Hoffnung auf ein neues Zeitalter in Liebe und Eintracht konkurriert bei Vives mit seinen düsteren Erfahrungen menschlicher Habgier und Herrschsucht.

Theorien der Sozialen Arbeit

Подняться наверх