Читать книгу Leider geil, fett & faul - Christian Zippel - Страница 12

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O tempora, o mores – O Zeiten, o Sitten

„Nun, da sich der Vorhang der Nacht von der Bühne hebt, kann das Spiel beginnen, das uns vom Drama einer Kultur berichtet.“

(Aus der Show bei den Pyramiden von Gizeh)

Possierlich… Wie es den Kopf hängen lässt und vor sich hin schmatzt, das unbekümmerte Männchen. Das Leben noch vor sich – aber schon in den Seilen hängen. Flach atmend, mit einem treu doofen Blick im Gesicht, ganz vertieft in die Nahrungsaufnahme.

Kein Sinn für die Welt da draußen, für den tausende Jahre währenden Kampf der Kräfte und Ideen. Keinen Schimmer von der Blüte der Kultur, von Stil und Philosophie. Ohne Bewusstsein für die Opfer und Schlachten der Vorfahren, das Schaffen der Genies, die Stärke der Krieger, die Selbstachtung der Freien und die Würde des Einzelnen. Kein Ohr für die Schreie der Unschuldigen und Verdammten, für die Diskurse und Verse der Sehnenden und Faszinierten, für das Schweigen der Gelassenen. Kein Auge für die Schönheit und das Grauen der Natur, für das Spiel von Chaos und Kosmos, für Zufall und Zerfall. Für all das, was den gewaltigen Prozess der Welt vorantreibt und zwischen den Zeilen bebt. Es kulminiert hier – am Punkt zwischen Verwahrlosung und Selbstbeherrschung, zwischen Anspruch und what ever ; wobei der Artgenosse vor mir eher Vertreter des Letzteren ist.

Er hat genug Probleme mit sich selbst, in der Pubertät. Das ist die Zeit, in der die Eltern schwierig werden, der Körper ein Eigenleben entwickelt und plötzlich diese Dinger auftauchen, die sonst nur Frauen haben: Gefühle.

Da hilft nur mauern, sich einmauern, den Blick nach Innen kehren, ins Internet, die weißen Ohrstöpsel ganz tief im Kanal versenken und nichts wie weg. Musik an- und die Welt abschalten, den Körper vergessen und mit ihm alle Probleme.

Faszinierende Fahrt auf zwei Gleisen

Die Münchener S-Bahn trägt mich voran, heute ohne Verspätung. Eigentlich leben in der Hauptstadt des Freistaats nur die erlesensten Deutschen – zumindest sagt man das hier –, aber bei dem perspektivlosen Jüngling vor mir fällt es schwer, das zu glauben. Tatsächlich erinnert keiner im Abteil an ein In-Dividuum – einen Menschen, in dem Körper und Geist vereint sind.

Selbst der Herr im Anzug macht einen zwiespältigen Eindruck. Getrieben durchforstet er den Börsenteil der Süddeutschen; in der Hoffnung, dass sich seine Wertpapiere nicht dem Papierwert nähern. Die Titelseite lässt er links liegen. Fallen Kinder in Syrien, dann ist das weit weg. Fallen die Aktien, dann geht das an die Nieren. Selbst wenn sie stagnieren, denn Wachstum allein, beendet seine Pein.

Er wirkt so erwachsen, geschniegelt und reif – allein in seinem Seitenscheitel steckt mindestens so viel Ernst wie Pomade. Darunter blickt ein wildes Tier in die Welt, gebändigt von einer gelben Krawatte. Wie ein Tiger, zum Angriff bereit, mit gespannten Muskeln und doch nicht befreit. Man meint, von seinem Geschick hinge unser aller Schicksal ab; aber da ist noch mehr in seinem Blick – Unruhe, Aggression, Verzweiflung.

Angst vor Verlust, vor Versagen, vor dem Gedanken, dass 80 Stunden Arbeit pro Woche zu wenig sein könnten. Und im Stillen… der nagende Zweifel, ob Erfüllung sich vielleicht doch nicht nur über den Kontostand definiert. Vermag äußerer Reichtum innere Leere aufzuwiegen?

Der Kurs scheint zu steigen, zumindest zeichnen seine triumphierenden Mundwinkel dies Bild. Doch es liegt Eis in seinem Grinsen, der Körper starr, die Nase zu hoch und der Kopf zu weit vorn – direkt über dem Wohlstandsbäuchlein. Ist das die Elite? Oder nur ein engagierter Mensch, mit so hohen Zielen, dass der Körper nicht mehr hinterher kommt?

Der Student ist gelassener. Nur heute nicht. Eifrig kümmert er auf einem der Notsitze. Die Nase in den Notizen. Die Notizen auf den Knien. Verzweifelt rutscht sein Blick ab und klatscht auf den Boden, direkt neben die Timberlands. Der Atem schafft es nicht so weit. Er steckt fest.

Sein Körper will weg von dem abstrakten Gewusel, sich ganz tief in der Barbour-Jacke verkriechen, doch der Wechsel steht auf dem Spiel. Vermutlich eine Prüfung, die ihn beunruhigt. Zu Recht! Mit dem, was er nicht weiß, könnten noch drei weitere Kommilitonen durchfallen.

Wäre er doch noch im Bett. Gerade erst Mittag. Das ist nicht seine Zeit. Der Münchener Student – und ich kenne ihn gut – fühlt sich erst wohl, wenn er den Tag verpennt. Nachmittags steht er auf, Abends unterzeichnet er seine körperliche Anwesenheit bei ein paar Seminaren und dann beginnt die nächtliche Routine: die junge Elite glänzt am Glas, denn die Quellen in der Uni sind trocken. Mit der Realität sollen sich die rumschlagen, die nicht mit Alkohol umgehen können.

Zur Uni fährt er schwarz, immerhin 2,60 € lassen sich sparen. Dass er des Nachts jede Fahrt mit dem Taxi bestreitet und für eine Flasche „Machmichblau“ das Zehnfache des Einkaufspreises berappt, ist ihm gleich. Tagsüber ein Schlucker, nachts ein König – von der Prüfung aus dem Leben gerissen.

Da ist die Verzweiflung groß. Irgendwann holt einen das Leben ein. Mit dem 7er von Papa ist man aber schnell wieder davon. Doch wo ist die Mitte, wo der Sinn, wie lange macht der Körper das mit? Findet sich das Glück wirklich nur in vitro, in der Lustbefriedigung? Kann die Fassade ein Fundament ersetzen?

Er hingegen hat wohl nie studiert. Er hat genug von den Prüfungen des Lebens und die Flasche Augustiner Edelstoff in seiner Hand zeugt davon, dass er momentan nicht einmal eine Blutprobe bestehen würde. In der hinteren Ecke sitzt er mit dreckigen Händen und versteckt sich – vor sich selbst. Mit eingesunkenen Schultern und schwerem Kopf, die Nase an der Scheibe, den Blick in der Ferne, träumt er ein schönes Leben herbei – so wie es die Reichen haben, von denen die Zeitung auf seinem Schoss berichtet. Ja, die Bild sagt mehr als tausend Worte – über ihre Käufer. Aber in die Ferne zu reisen, wird ihm nichts nützen. Seine Probleme begleiten ihn, denn er klammert sich daran. Warum wirft er sie nicht ab? Das würde ihn aufrichten.

Loslassen ist schwer – besonders für uns. Wir wollen haben, jagen, sammeln und rammeln; wollen die Welt verschlingen, doch haben Angst vor Veränderungen, Alleingängen und… zu viel Freiheit.

Ich blicke auf die Frau ein Abteil weiter, vermutlich Opernsängerin. Verzweifelt fröhlich schaut sie mich an, denn sie inhaliert bereits den zweiten Schokoriegel. Sie sucht die Erfüllung in der Überfüllung. Was würde sie wirklich glücklich machen?

Schmucker ist die liebreizende Dame, die vor der Tür steht und sich am Pfosten festhält; wahrscheinlich ihr Freund. Doch warum zieht sie die Schultern so hoch und den Kopf tief hinunter? Hat sie sich ihre Haltung vom Billy-Regal abgeschaut und das Selbstbewusstsein gleich mit? Warum diese Starre? Lebt darin ein freier Geist?

Bei Don Corleone, der vor mir auf den freigewordenen Sitz sackt, sicher nicht. Ein zu enges grau-lila-liniertes Polo-Shirt der Größe XXL ziert den Mann, der keine Ruhe finden kann. Die Finger wuseln wie ein Bündel dicker Tauwürmer. Seine von einem dünnen Oberlippenbart verstärkte Lippe vollführt Kapriolen. Schmatzend, knetend und brodelnd. In ihm ist die Hölle los.

Erfinden könnte ich ihn nie, er wäre zu übertrieben – doch er ist real und sitzt vor mir, in diesem Moment und macht den Eindruck, als hätte heute früh ein Pferdekopf neben ihm im Bett gelegen. Dabei war es sicher seine Frau, die brav und umso stiller neben ihm steht und nicht nur mit den Füßen, sondern auch mit den Augen den festen Halt auf dem Boden sucht, den ihr Mann kaum geben kann.

Zeit den Zug zu verlassen und einen anderen Weg zu wählen. Direkt unter der Mariensäule platzt der Schlauch auf und spült uns hinaus. Ein lesendes Männlein springt mir ins Gesicht, ein Professor von der Hochschule. Still steht er am Abgrund, direkt vor dem Gleis. Jemand, der sich konzentrieren kann, der seine Zeit nutzt und sich bildet – doch leider nur geistig, beim Körper ist er geizig. Ist Lehre, ist Leben nur eine Frage des Kopfes? Je nüchterner der Geist, desto näher der Wahrheit? Soll der ausgedorrte Mensch der Maßstab der Dinge sein?

Wie will mir jemand das Leben lehren, der nicht einmal zwanzig Liegestütze schafft und sein Haupt dem Buche beugt – statt es vor die Nase zu heben? Natürlich könnte er auch das lernen; aber die Welt ist nicht das, was sein könnte, sondern das, was man daraus macht. Ist es oberflächlich, bei einem Menschen, auch den Körper zu betrachten? Vielleicht… Vielleicht ist es aber auch tiefgründiger als alles bisher Gedachte zusammen; weil das Denken über den Dingen steht – der Mensch aber nicht.

Eine seltsame Spezies, dieser Mensch. So weit oben und doch ganz unten. Nichts und niemand hat so viel Potenzial und lässt sich zugleich dermaßen gehen. Warum ist das so?

Seneca flüstert mir zu: „Das Gute findet sich nicht in jedem Körper, nicht in jedem Alter und ist von der Kindheit so weit entfernt, wie das Letzte vom Ersten, wie das Vollendete vom Anfang.“

Aber was ist das Gute?, will ich wissen.

„Eine freier und hochgerichteter Geist, der alles andere sich unterwirft, sich selbst aber keinem.“

Leider geil, fett & faul

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