Читать книгу Leider geil, fett & faul - Christian Zippel - Страница 27
Verba docent, exempla trahunt – Worte lehren, Beispiele bekehren
ОглавлениеTrocken, nüchtern lässt sich schwer denken, allenfalls abstrakt verrenken. Wo kein Wille dahinter wirkt, geschieht alles nur schwach und ohne Fluss, ohne Drang zu Schaffen, zu verbessern, zu einem Ende zu kommen und es zu realisieren.
Doch wie lässt sich die Kraft der Natur anzapfen, der Saft des Lebens so umleiten, dass er auch durch uns fließt?
Jeder Mensch hat etwas, das ihn seiner Natur – den Trieben, die in ihm schlummern – nahe bringt. Etwas, das ihn in Fahrt versetzt, in Rage bringt, erregt, aus der Haut fahren oder platzen lässt. Werter Leser, wie viele Tropfen verträgt ihr Fass noch, bis es überläuft und stilles Wasser fließen lässt? Wie lange wollen Sie noch die Beine still halten, statt zu rennen, zu springen und zu tanzen? Sind sie reiner Schreibtischmensch oder wären sie gerne auch Werwolf, der sich bei Vollmond seiner schwachen Hülle entledigt und mit zum Bersten gespannten Muskeln allen Hindernissen trotzt, um seinen Durst zu stillen?
Wofür schlägt Ihr Herz? Wie tief schlummert Ihre Kraft? Wie sehr ist sie verschüttet von Konventionen, Scheinheiligkeit und Schwäche? Was versetzt Ihre Lenden in Wallung? Was lässt Sie erröten? Wofür würden Sie töten?
Auch, wenn Sie sich all das aberzogen haben oder es Ihnen bereits mit den Milchzähnen gezogen wurde. Diese scheinbar rohen, unmenschlichen Triebe sind der wahre Quell einer jeden Menschenkraft, die es zu kanalisieren und nicht auszurotten gilt – zumindest wenn man auch leben und nicht nur überleben will, wenn man auch schaffen, lachen und siegen will, statt nur zu existieren.
Gehen Sie von nun an aufmerksam durch den Alltag. Finden Sie, was ihr Blut zum Brodeln bringt und die Säfte in Bewegung setzt. Vergessen Sie die aufgesetzte Coolness, diesen Schein der Teilnahmslosigkeit, der doch nichts anderes ist als vorgezogene Leichenstarre. Wirklich cool ist, wer etwas findet, für das es sich zu kämpfen lohnt – mit Körper, Kraft und Geist.
Einige der östlichen Heilslehren, die zur Teilnahmslosigkeit an allem weltlichen Geschehen aufrufen, mögen uns im Punkt der Körperbeherrschung voraus sein, aber sie gehen fehl in der Annahme, dass das ewige Nichts bzw. die vollkommene Leere das oberste Ziel sei. Der Drang dorthin ist nicht der Weg des Lebens.
Wir wollen eine starke innere Ordnung etablieren und die brodelnden Konflikte zur Ruhe bringen, um richtig zu leben und nicht, statt zu leben. Wir wollen aus diffusen Strömen einen Strom machen, den „Wohlfluss des Lebens“ – wie ihn die Stoiker nannten. Die Nachgeburten der östlichen Heiligen haben von diesen nur die Hülle übernommen, nicht aber ihre Kraft, ihren Trieb, ihre fanatische Kompromisslosigkeit – wie beim suchenden Buddha:
„Möge meine Haut schrumpfen und meine Hand verdorren, mögen meine Gebeine sich auflösen – solange ich nicht die letzte Erkenntnis gefunden habe, werde ich mich nicht von der Stelle rühren.“
Er selbst folgte keiner Religion. Er wusste, dass der freie, suchende Mensch seinen eigenen Weg finden und gehen muss. Er wollte nicht als Gott verehrt werden und sah seinen Weg ungern als Religion. Doch beides ist geschehen. Der starke, freigeistige Buddha, der seine Kraft sublimierte und die Erleuchtung suchte, wurde für die Masse zur Gottheit und der Buddhismus zur Religion. Nun sitzen Millionen von Menschen im Lotussitz herum und starren ins Leere, ohne einen Funken des inneren Feuers, das in Buddha loderte.
Er war wie das Leben, er wollte streben, überwinden und frei sein. Dabei einen minimalistischen und bedachten Weg zu wählen ist eine gute Sache, sich aber komplett vom Weg, vom Gehen abzuwenden und einfach nur hocken zu bleiben, ohne ein inneres Ziel, ohne Drang und Energie, ist der vorgezogene Tod, eine Sackgasse des Lebens. Dabei liegt noch so viel Strecke vor uns.
Im Laufe der Zeit werden Sie viele Tankstellen der Kraft finden, an denen Sie Ihre Triebe kitzeln können. Mag es das Bild Ihrer Traumfrau sein, ein Foto Ihrer Kinder, die Sie nie enttäuschen würden, ein stumpfer Porno, inständiger Glaube, die Verachtung gegenüber der herrschenden Klasse, das niederträchtige Prekariat, das Knüppeln einer putzigen Robbe, tierisch gute oder zumindest laute Musik, überflüssige Bürokratie, der am Sonntag Abend mähende Nachbar, dioxinverseuchte Eier, Massentierhaltung auf der A8, ewigrote Ampeln, Fische voller Antibiotika, z.T. gehärtete Fette, Veganer, leere Kalorien, Geschmacksverstärker, der bevorzugte Arbeitskollege, der chauvinistische Chef, Grippewellen, die verzogene Jugend, Warteschleifen, die Absurdität unserer Existenz, der Tod Ihres besten Freundes, der Krebs im Körper Ihres Bruders, die verdammte Hitze, der sintflutartige Regen, chronische Rückenschmerzen, Gartenarbeit, Ihre eigene Unzulänglichkeit, die Deutsche Bahn, Vergewaltigung, Krieg und Mord oder die Teletubbies. Da wird es doch etwas geben. Ich glaube eher an die Unschuld einer Hure, als dass Sie nichts davon erregen wird.
Schauen Sie sich den Menschen an! Die personifizierte Fahrlässigkeit, Stumpfsinn auf zwei Beinen, 46 Chromosomen voller Mutationen und Defekte. Unzählige Dimensionen der Dummheit und Dreistigkeit. Unfassbare Weiten der Weichheit und Verweiblichung angeblicher Männer, die zu Hause Staub feudeln und dabei im Duett mit Celion Dion den Soundtrack von Titanic trällern, während die Frau in der Kneipe sitzt, den Ton anrülpst und hoffentlich nicht schon wieder vergessen hat, sich zu rasieren. Dazu ein paar verzogene Gören, die zu allem fähig sind, aber zu nichts zu gebrauchen. Eine Gesellschaft von Linksspurschleichern, Herzchen-Smileypostern und Weichspülern.
All das sind auch Sie – zumindest sind es Aspekte Ihrer Welt! Verdrängen Sie sie nicht, lassen Sie sich davon bewegen, ja berauschen, aber nicht übermannen. So viel Unfug, Blödsinn und Schwäche. So viele Gerechtigkeitslücken, verschlafene Baustellen und marode Brücken. Doch da sind auch Hoffnung, Liebe und Verbundenheit. Schönes, Erfrischendes und Begehrenswertes.
So viel Leben, Streben und Danebenliegen, dass es eine Schande wäre, ein Verbrechen am eigenen Potenzial und der Menschheit, wenn man einfach nur wegsehen und sich ducken würde, statt daran zu wachsen, sich motivieren und stärken zu lassen – vom Fluss des Lebens, mit all seinen Wirbeln und Tiefen, seinen Irrläufen, Kurven und Sandbänken, aber auch mit seinem Reichtum, seiner Frische, Fruchtbarkeit und kraftvollen Mitte.
Sperren Sie den Fluss des Lebens nicht aus, sondern leiten Sie ihn durch Ihren Garten. Auf dass er über das Rad Ihrer Mühle herabstürze und Sie anzutreiben vermag. Freuen Sie sich über alles, was Sie nervt und bewegt, ganz gleich ob gut oder schlecht, lassen Sie sich aufladen und dann sublimieren Sie. Nutzen Sie die rohe unbeherrschte Kraft der Natur für Ihre Zwecke!
Lassen Sie sich nicht einfach davon berauschen, wie ein 16-jähriger, der von Youporn und einem Haufen Taschentücher entmannt wird, oder wie ein gescheiterter Künstler, der sich von Drogen missbrauchen lässt. Behalten Sie die Kontrolle, beherrschen Sie sich selbst. Kanalisieren Sie die Energie und nutzen Sie sie konstruktiv, sobald sie heranschießt. Dann wechseln Sie vom niedersten tierischen Instinkt zum höchsten übermenschlichen Ziel – oder zumindest zu dem Projekt, an dem Sie gerade arbeiten.
Alles Große kommt aus der Hose
Das ist das Geheimnis der Kraft eines jeden großen Menschen. Meist geschieht es unbewusst, doch durch sie alle rauscht im Hintergrund ein Fluss, der sie antreibt. Die Kunst der Konsequenz liegt darin verborgen, wie gut ein Mensch, diesen Fluss aufrecht erhalten und einen neuen erschließen kann, sobald der alte versiegt.
Diese Fähigkeit scheint sogar ein Selektionsvorteil zu sein. Schließlich entscheidet er darüber, wie kraftvoll und beharrlich der einzelne Mensch ist. Bereits Thomas Alva Edison stellte fest, dass Erfolg nur zu 1% aus Inspiration und zu 99% aus Transpiration besteht. Er wusste, wovon er spricht; fand er doch Tausende Wege – wie die Glühbirne nicht funktioniert.
Harte Arbeit schlägt Talent, wenn Talent nicht hart arbeitet. Viele Talente scheiterten, weil sie faul waren. Ebenso vermag gute Erziehung eine Grundlage bilden, aber die Welt ist voll von gut erzogenen Versagern, die darin versagten, weiter an der Verwirklichung ihrer Vision zu arbeiten und zu erkennen, dass Misserfolge nur falsche Pfade auf dem Weg zum Erfolg sind. Mit jedem gescheiterten Anlauf erfährt man, wo es nicht lang geht. Das ist wertvolles Wissen, das unweigerlich jeden zum Ziel führt, wenn er nur genug Kraft hat, um beharrlich weiter zu forschen. Solche Gedanken findet man bei vielen Forschern und Gestaltern dieser Welt – wie bei Louis Pasteur, dem französischen Chemiker und Mikrobiologen, dem wir u.a. die haltbare Milch verdanken:
„Ich will Ihnen das Geheimnis verraten, das mich zum Ziel geführt hat. Meine Stärke liegt einzig und allein in meiner Beharrlichkeit.“
Viele Künstler und Wissenschaftler waren fest davon überzeugt, dass alle möglichen Ideen und Lösungen auf Probleme bereits in einer übergreifenden Weltweisheit bzw. einem kollektiven (Unter-)Bewusstsein verfügbar seien. Wir müssten nur unseren Empfänger – unser Gehirn – darauf einstellen, um daran teil zu haben.
„Genie“ sei so vor allem die Fähigkeit, Wissen bzw. Weisheit zu empfangen und nicht, sie zu schaffen. Kreativität und das Finden von Lösungen sei dahingehend weniger analytisches Denken, sondern mehr Kontemplation und Meditation – z.B. unter einem Apfelbaum. So dachte der Quantenphysiker Werner Heisenberg in seinem Buch Der Teil und das Ganze. Ebenso sein Kollege Erwin Schrödinger, der in Geist und Materie schrieb, dass es seiner Meinung nach nur ein Bewusstsein gebe und der Geist jedes Menschen sei wie ein eigenes, einzigartiges Fenster zu diesem Bewusstsein.
Das erschließt ein neues Weltbild – im Gegensatz zu der hauptsächlich toten, kalten und materiellen Welt, in der die meisten von uns zu leben glauben. Dafür spricht, dass viele Forscher – und die sollten es wissen, denn es ist ihr Beruf, geistreich zu sein – fest davon überzeugt sind bzw. waren, dass ihnen die Erkenntnis eher zugefallen ist, als sie selbst geschaffen zu haben.
Mendelejew behauptete, die Idee zum Periodensystem, sei ihm im Traum erschienen. Hitler faselte von einer Vorsehung, aber die führte eher dazu, dass viele das Nachsehen hatten. Ich selbst hatte noch nicht genug große Ideen, um diesen Punkt zu entscheiden.
Meine Generation muss erst einmal lernen, die Dauerbeschallung der Medien zu überwinden – bevor sie fähig wird, zu vernehmen, was da draußen vielleicht auf uns wartet. Wenn ich leuchtende Momente hatte, die zugegebenermaßen überaus erfüllend waren, dann waren Sie keinesfalls dem Denken geschuldet. Dafür bin ich nicht integlient genug. Eher schossen sie aus der Tiefe meines Wesens in mein Bewusstsein und erfüllten mich voll und ganz – wie ein Orgasmus.
Ob wir tatsächlich von einer kosmischen, kollektiven Weltweisheit sprechen können, bleibt fraglich. Für mich steht fest, dass meine Eingebungen vor allem aus der Weisheit meines ganzen Wesens stammen – man mag sie auch als Intuition bezeichnen. Seit über 15 Jahren lese ich Bücher – ja, freiwillig. Schwerlich kann ich mich an die Inhalte erinnern; nicht einmal die Titel könnte ich aufzählen. Doch mein „Team Mensch“ wird sie verarbeitet und integriert haben – so wie alle meine Erfahrungen, Fehltritte und Glanzminuten.
Nun lasse ich mich von diesem ständig wachsenden Fundus leiten – ohne viel zu denken – wie bei diesem Buch. Ich habe es nicht geplant, nicht gedacht, nicht geordnet; auch nicht im Nachhinein, da ich die Urwüchsigkeit nicht zerstören wollte. Just in diesem Moment gleiten meine Finger über die Tastatur, klimpern mal hier und mal dort – ohne, dass ich es planen würde. Was mein Wesen Ihnen mitteilen will, erfahre ich erst, wenn ich lese, was ich schreibe.
Ich lerne mich durch das Buch erst richtig kennen – wo hat man sonst die Möglichkeit, seinem Innersten so viel freien Lauf zu lassen? Nicht alles, was ich lese, gefällt meinem Geist: Mein Verstand heult ab und an auf, wie eine weggesperrte, gepeitschte Kreatur. Mein Stilempfinden stößt sich an der sich immer wieder erbrechenden, derben Sprache. Meine Vorsicht bewertet zu viel Offenheit als kritisch und mein Gewissen ist verreist nach Bordeaux.
Natürlich könnte ich das Geschriebene von meiner kritischen Vernunft kastrieren lassen – doch wozu dann dies Buch? Wer als Schriftsteller nicht offen und unverblümt schreibt, was er lebt, sollte die Feder gar nicht erst erheben.
Zudem wäre es mir zu mühsam, mir rein Gedachtes aus den Hirnwindungen zu pressen – wie viel Saft bekommt man wohl aus einer Walnuss? Wohingegen der Fluss des Strebens täglich und über Monate hinweg Zeile für Zeile aus mir strömen lässt – mühelos wie der Bach dem Meer zufließt. Mein Geist konnte dies Buch nur bis Seite 50 denken. Am Ende werden wir messen können, wie weit sein Horizont reichte – und wie weit meine Fähigkeit. Die meisten Menschen denken schlecht über sich, obwohl sie Weltbewegendes schaffen könnten, wenn sie es nur machen würden.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Kraft der Natur über unseren Körper anzapfen können. Die Triebe darin sind Ventile dieser Kraft. Sie ist schier unerschöpflich. Wir müssen nur lernen, die Ventile zu öffnen und dem Druck dahinter Herr zu werden. So dass die Triebe nicht gleich eine Riesen-Sauerei anrichten. Lieber sollten wir ihre Kraft direkt nach oben auf die Mühlen unseres Schaffens leiten. Ist der Geist erst einmal am Rotieren, ja ist er getrieben, dann gilt es nur noch, dem Körper regelmäßige Ruhepausen gönnen, damit er nicht überhitzt und ausbrennt. Das Kanalisieren unserer rohen tierischen Triebkraft ist nur eine – wenn auch die mächtigste – der Möglichkeiten zur ihrer Kultivierung; weitere folgen.
Wir sollten uns stets bewusst machen, wie viel Kraft bereits in kleinsten Atomen steckt – fragen Sie nur Hiroshima. Nach Einsteins Gleichung „E=mc²“ sind Masse und Energie äquivalent und Materie ist nur eine besonders stabile Form von Energie. Könnte man diese Stabilität aushebeln, wäre die Energie in Ihrem Körper groß genug, um ganz Deutschland in die Luft zu jagen oder zumindest, um es für einige Stunden komplett mit Strom zu versorgen (oder einen amerikanischen Haushalt). Jeder von uns hat enorme Energie in sich, aber nur die wenigsten nutzen sie. Die meisten denken sich schwach.
Ich gebe gerne zu, dass ich seit langem intuitiv lebe und entscheide – ohne meinem Denken viel Gehör zu geben. Mein Leben ist ein Bei-Spiel irrationaler Entscheidungen – vom Studium der Philosophie über planloses Trainieren bis hin zum Aufgeben meiner materiellen Stabilität, indem ich meinen Besitz auflöste und meine Wohnung kündigte, um innerlich noch stabiler zu werden.
Nichts hätte mich freier und erfüllter machen können. Nirgendwo wäre ich jetzt lieber als hier – in meinem Körper, im pulsierenden Bangkok, frisch dem Pool entschlüpft, im Freien schreibend, kurz vor einer heißen Nacht – und wenn bereits die Tage fast 40° haben, will das was heißen.
Wäre ich nicht so „dumm“ gewesen, hätte ich brav technik- und managementorientiertes BWL studiert und würde jetzt im Büro einer seelenlosen Unternehmensberatung sitzen. Da würde es zwar weniger sechsbeinige Kakerlaken geben, aber was soll‘s. „Team Mensch“ hat entschieden, damit lässt sich‘s wunderbar leben und wir trinken jetzt eine Weiß-Wein-Schorle. Chok dee, Flanders!
…und zurück!
Guten Morgen, kleine Wiederholung: Schaffen wir es die diffuse Energie zu bündeln, indem wir sie kanalisieren, dann wird sie stark und zentriert – wie ein Strom, der unser gesamtes Leben erfassen und bewegen kann. Jeder Mensch ist ein Kraftwerk. Die meisten lassen die Reaktoren brach liegen und begnügen sich damit, den Garten davor zu bestellen. Dabei haben wir alles, was wir brauchen, bereits in uns oder können es dort entfesseln.
Marc Aurel fand sogar eine moralische Dimension in seinem Inneren und empfahl jedem, auf der Suche nach dem guten, richtigen Leben vor allem in sich selbst zu suchen:
„Richte Dich auf Dein Inneres, dort findest Du die Quelle des Guten, die nie versiegt, wenn Du nur immer nachgräbst.“
Er war Vertreter der Stoa, wie Lucius Annaeus Seneca, und wie jeder Stoiker davon überzeugt, dass alle Stärke, Stabilität und Sicherheit bereits im Menschen vorhanden ist und nur erkannt und freigelegt werden müsse. Die Außenwelt sei unsicher, verwirrt und schwach. Man dürfe sich nicht auf sie verlassen, sondern solle möglichst unabhängig von ihr und ihren Wirrungen leben.
Wäre ich vernünftig, dürfte ich keinen Stoiker zu Wort kommen lassen, denn sie schworen auf die Vernunft als einzig maßgebliche Instanz. Sie allein könne es dem Menschen erlauben, sich über die irdischen Irrungen zu erheben und stabil zu bleiben, selbst wenn um ihn herum alles zusammenbricht. Zudem missachteten sie den Körper, sahen ihn nur als Gefäß und Werkzeug des Geistes.
Doch viel Weisheit steckt in ihren Worten, die sie sicher nicht nur der Vernunft zu verdanken hatten. Auch waren sie Meister der Selbstbeherrschung und siegten über die Leidenschaften. Wir können viel von ihnen lernen. Der Hund, den sie bereits vor 2.000 Jahren an die Leine legten, lebt auch in uns.
Körperlich sind wir weiter – oder schon mal einen Stoiker mit Waschbrettbauch gesehen? Es waren meist ausgemergelte Gestalten, die sich vom Trieb des Lebens entsagten – vielleicht waren sie auch nur deswegen so vernünftig. Ob sie das Leben wohl liebten? Zumindest lebten sie kaum die Liebe und schon gar nicht das Spielerische. Wir könnten uns Seneca als einen trockenen, aber verdammt weisen Menschen vorstellen.
Tatsächlich war er viel mehr als nur vernünftig. Tief in sich drin war er leidenschaftlich und getrieben – er vermochte diese Kraft nur derart gut zu kultivieren, dass ihm ihr Ursprung nicht in den Sinn kam. Am Ende Von der Gemütsruhe schreibt er:
„Nur der stark erregte Geist vermag etwas überragend Großes auszusprechen. Blickt er verächtlich herab auf das Gewöhnliche und Alltägliche und erhebt er sich in begeistertem Aufschwung zu größerer Höhe, dann erst künden seine Lippen Größeres als ein sterblicher Mund. Nichts Erhabenes und auf der Höhe Thronendes kann er erreichen, solange er bei sich selbst ist. Losreißen muss er sich von der nüchternen Gewohnheit, sich aufschwingen und in die Zügel knirschen, den Lenker [die Vernunft] mit sich fortreißen und ihn dahin bringen, wohin er auf eigene Faust sich nie getraut hätte zu gelangen.“
Wer solch einen Rausch an das Ende eines Textes über die Gemütsruhe setzt, der ist sicher nicht von reiner Vernunft. Ich kenne Seneca. Habe ihn studiert, übersetzt und verschiedene Übersetzungen gelesen. Immer und immer wieder. In über 2.000 Jahren Philosophie ist mir kaum jemand über die Großhirnrinde getapert, der dermaßen zum Hohen, Erhabenen, Selbstbeherrschten und Unabhängigen getrieben gewesen wäre wie Seneca. Darin gleicht er Nietzsche – obwohl er sich selbst als kühlen, nüchternen Vernunftmenschen gab. Was blieb ihm anderes übrig, in einem Gedankensystem, in dem es notwendig war, ein Gegenstück zu den Leidenschaften zu definieren und in einer Zeit, in der über den Körper nur wenig bekannt war. Selbst die Stärksten werden von den Umständen geprägt.
Ich werde ihn nicht weiter analysieren. Im Geiste gäbe es klare Differenzen, doch der Rest in mir weiß – wir sind Brüder im Leibe. Egal, was in seinen Zeilen steht. Seneca war ein Leibhaftiger, ein Getriebener, der die stumpfe Welt und sich selbst überwinden wollte.
Auch könnte man, könnte auch ich – wie Nietzsche – schreiben, dass die wahre Vernunft im Körper liegt:
„‚Leib bin ich und Seele‘ – so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft. ‚Ich‘ sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich.
Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie. Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ich‘s Beherrscher.
Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit.“
Hier in unserem Leib liegt unsere wahre „Vernunft“, unsere tiefere „Intelligenz“, die der nicht-linearen Logik fähig ist – gegen die die lineare des Bewusstseins die eines billigen Rechenschiebers ist. So könnte auch ich argumentieren und hätte Seneca gewusst, was wir wissen, hätte er es vielleicht auch getan. Aber das ist Wortzauberei, ein Spiel mit den Begriffen. Dennoch ein sehr schönes und somit wahres – zumindest wahrer als die Vernunft des Geistes als höchste Instanz anzusehen. Allenfalls hoch ist ihre Position doch nicht ihre Macht. Sie ist ein Zwerg auf den Schultern eines Riesen. Sie wird immer ein offenes Ohr finden, doch über die Richtung entscheidet sie kaum. Da kann sie dem Riesen noch so sehr klug zureden – solange sie nicht lernt, sich zu verkörpern und den Körper zu begeistern, wird sie schwach und wirkungslos bleiben, verdammt zu denken, ohne zu lenken. In dieser kümmerlichen Position bleibt ihr nichts übrig, als sich selbst und anderen Vernunft-Menschen nachträglich die vom Riesen getroffenen Entscheidungen zusammenzurationalisieren, um sie vernünftig erscheinen zu lassen und das geht bei allem. Rein rational kann man alles begründen, vom Krieg über den Frieden bis hin zu Massenmord, Raub und Zuckerwatte. Gründe lassen sich immer vorschieben. Doch Gründe sind meist nur verkleidete Werte, Prinzipien und Lüste – mehr oder minder kultivierte Triebe. Nach diesen entscheiden wir uns und die sind nie vernünftig – denn sie stehen außerhalb der Vernunft. Sie erwachsen weit tiefer – und gebrauchen die Vernunft allenfalls, um ihre Ziele zu erreichen.
Ein Ziel ist sicherlich, vernünftig zu erscheinen, weil viele Menschen der Vernunft hörig sind. So nutzen die Triebe die Vernunft und kleiden sich in ihr Gewand, um so mehr Verständnis und Unterstützung für ihre Verwirklichung zu erhalten. Welch Genie-Streich der Kraft in unserem Leib. Wie illusionär, zu glauben, die Vernunft könne sich umkehren und den Trieb beeinflussen, der sie füttert und beherrscht – als ob ein Taschenrechner den ihn gebrauchenden Menschen beeinflussen könnte.
Wer sich anderen nähern will, sollte hinter ihre Gründen sehen. Ich höre Menschen kaum noch auf der Vernunft-Ebene zu. Ich betrachte, wie sie leben und handeln, wie kultiviert ihre Triebe sind, wo sie Probleme haben und schaue, wo ich mit ihnen zusammenkommen, ihnen etwas entgegnen oder sie fördern kann. Was sie mir zusammenrationalisieren interessiert weniger. Es zeigt nicht, warum sie so handeln und leben wie sie es tun, sondern nur, wie intelligent sie sind – wie sehr sie dazu fähig sind, sich Erklärungen und vernünftige Gründe dafür auszudenken, besonders für ihre Schwächen und unkultivierten Triebe.
Intelligenz wird bei uns hoch geschätzt. Sie ist auch ein tolles Werkzeug. Doch im zwischenmenschlichen Bereich und im Leben an sich, ist sie weniger mächtig. Erst recht nicht entscheidet sie darüber, wie menschlich, lebendig oder sympathisch jemand ist. Oft sehen wir besonders intelligente Menschen, die zwischenmenschlich und lebenstechnisch arge Probleme haben. Wer könnte da denken, dass noch mehr Intelligenz die Lösung zu diesen Problemen ist? Die Lösung liegt tiefer, dort wo Wirksamkeit erwächst. Sind doch die größten Überwindungen und eindrucksvollsten Taten nicht alle unvernünftig, grenzüberschreitend und erst dadurch anziehend für andere sowie entscheidend für das Leben? Sind sie nicht allesamt Entscheidungen der großen „Vernunft“, der sexuellen Triebkraft?
Es sind diese Entscheidungen und Taten, die imponieren, wenn sie gelingen, und alle fassungslos dastehen lassen, wenn sie daneben gehen. Dann kommen die üblichgrauen Fragen wie: „Was hast Du Dir dabei gedacht?“, „Wie kannst Du nur so unvernünftig sein?“ oder „Wie können Sie mir das erklären?“ .
Da prallen Welten aufeinander, Risse, ja Schluchten tun sich auf, inmitten der Menschen – denn hier gibt es keine vernünftige Antwort. Ein Tor, wer danach sucht. Auf der Ebene der Vernunft erscheint alle Unvernunft verrückt und wahnsinnig. Viele stürzen in diesen Ab-Grund, weil ihr Sprung nicht groß genug ist – nicht, weil sie zu wenig, sondern weil sie noch zu viel gedacht haben.
Der Mensch muss wahrlich weit springen, ja ein Pfeil sein, um den Abgrund in sich selbst und die Bodenständigkeit der Vernunft zu überwinden. So gelangen wir über Nietzsche wieder zu Seneca. Nun wird bewusster, wie sehr er den Weg zur Größe in der Überwindung bzw. der Erhöhung der Vernunft sah:
„Nur der stark erregte Geist vermag etwas überragend Großes auszusprechen. Blickt er verächtlich herab auf das Gewöhnliche und Alltägliche und erhebt er sich in begeistertem Aufschwung zu größerer Höhe, dann erst künden seine Lippen Größeres als ein sterblicher Mund. Nichts Erhabenes und auf der Höhe Thronendes kann er erreichen, solange er bei sich selbst ist. Losreißen muss er sich von der nüchternen Gewohnheit, sich aufschwingen und in die Zügel knirschen, den Lenker [die Vernunft] mit sich fortreißen und ihn dahin bringen, wohin er auf eigene Faust sich nie getraut hätte zu gelangen.“
Jeder gewöhnliche Mensch hat die Macht zu Außergewöhnlichem – wenn er außer sich gerät. Der Unterschied zwischen dem, was wir tun, und dem, wozu wir fähig sind, reicht aus, um ein außergewöhnliches Leben zu führen; in noch viel höherem Grad, als es je ein Mensch erdacht oder verwirklicht hat. Unser Potenzial ein Meer, was wir daraus schöpfen: Tropfen. Wir sind der Ab-Schaum am Ufer, der sich mit Treibgut abspeisen lässt, für Oberflächliches empfänglich ist und weder Höhe noch Tiefe kennt – da er sich nicht hinaus wagt.
Alles, was wir machen, sollten wir auch mit vollem Einsatz machen, mit voller Aufmerksamkeit und Hingabe, mit Körper, Geist und Kraft – nur dann wird es uns erfüllen und zu einer sinnstiftenden Tätigkeit mit guten Ergebnissen. Alles, was es nicht wert ist, richtig gemacht zu werden, ist es nicht wert, überhaupt gemacht zu werden. Hier gibt es Klärungsbedarf. Wir Menschen neigen dazu, wichtige Dinge aufzuschieben oder nebenher zu machen und für Nebensächliches unsere Ressourcen zu verschwenden. Das bessert unser Leben kaum – egal wie vernünftig wir dabei vorgehen.