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Was Ihre Geschlechtshormone alles bewirken

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Seit Langem ist bekannt, dass unsere weiblichen Hormone nicht nur bei der Fortpflanzung eine Rolle spielen. Sie beeinflussen unsere Stimmung und die Art und Weise, wie unser Gehirn funktioniert. Bis zur Pubertät leiden Mädchen und Jungen gleich häufig unter Depressionen. Danach, wenn die Eierstockhormone emporbranden und die Zyklen beginnen, nehmen Depressionen beim weiblichen Geschlecht zu, wobei die höchste Inzidenz zwischen 22 und 45 Jahren zu verzeichnen ist. Auf die Lebenszeit gerechnet, beträgt die Inzidenz von Depressionen bei Männern statistisch 1:10, bei Frauen hingegen 1:4. Nach der Menopause gleichen sich die Depressionsraten beider Geschlechter wieder einander an. Untersuchungen über Kulturgrenzen hinweg haben gezeigt, dass Frauen auch in anderen Kulturen im Laufe ihres Lebens häufiger an Depressionen leiden als Männer.

Ich glaube, dass diese weltweite geschlechtsspezifisch höhere Anfälligkeit für Depressionen teilweise mit der untergeordneten Rolle zusammenhängt, die die meisten Frauen in den meisten Kulturen seit Jahrtausenden zu spielen gezwungen wurden. Davon abgesehen trifft es auch zu, dass Menstruationszyklus, Schwangerschaft, die Zeit nach der Niederkunft und die Wechseljahre bei vielen Frauen mit Depression verknüpft sind. Und diejenigen, die anfällig für PMS sind, sind auch am anfälligsten für Wochenbettdepressionen und Stimmungsprobleme in den Wechseljahren. Das hat teilweise mit der komplexen Wechselwirkung zwischen Hypothalamus, Hirnanhangdrüse, Eierstöcken und den zahlreichen Hormonen zu tun, die in diesen Schlüsselregionen gebildet werden und dort wechselwirken. Die entscheidenden Hormone dabei sind:

 GnRH (gonadotropin releasing hormone, Gonadotropin freisetzendes Hormon), das im Hypothalamus produziert wird

 FSH (Follikel stimulierendes Hormon) und LH (luteinisierendes Hormon), die in der Hypophyse gebildet werden und der Reihe nach den Anstieg von Östrogen und Progesteron während des monatlichen Menstruationszyklus stimulieren

 Östrogen wird in den Eierstöcken, im Körperfett und in anderen Körperregionen gebildet

 Progesteron wird vorwiegend in den Eierstöcken gebildet und bereitet zusammen mit Östrogen die Auskleidung der Gebärmutter (Gebärmutterschleimhaut) auf die Einnistung und das Wachsen des Embryos vor

Der Hypothalamus reguliert die Produktion all dieser Hormone und wird wiederum von ihnen – und vielen anderen – reguliert. Er besitzt nicht nur Rezeptoren für Progesteron, Östrogen und Androgene (wie Dehydroepiandrosteron, kurz DHEA, und Testosteron), sondern auch für Noradrenalin, Dopamin und Serotonin, das heißt für Neurotransmitter, die unsere Stimmung regulieren und die von unseren Gedanken und Überzeugungen, unserer Ernährung und Umwelt beeinflusst werden.

Wenn Östrogen, Progesteron und Androgen keine anderen Aufgaben im Körper hätten, als die Fortpflanzung anzukurbeln, würde die Konzentration dieser Hormone nach der Menopause auf null fallen. Aber das ist nicht der Fall. Ebenso gilt: Wenn GnRH, FSH und LH nach der Menopause plötzlich ohne Aufgabe wären, wäre zu erwarten, dass diese Hormone nach diesem Zeitpunkt aufhören würden, im Blut zu zirkulieren. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall.

Im Verlauf der Wechseljahre beginnt die GnRH-Konzentration im Gehirn zu steigen, was dazu führt, dass FSH und LH auf einen Höchstwert schnellen. Eine populäre Erklärung dafür ist, dass dies der Versuch des Körpers ist, die Eierstöcke mit aller Macht dazu anzutreiben, ihre ursprüngliche Funktion wieder aufzunehmen, was Sinn machen könnte, wenn nicht eine beredte Tatsache dagegen spräche: Diese erhöhten FSH- und LH-Spiegel bleiben auf Dauer auf diesem hohen Niveau, auch dann noch, wenn es physiologisch offensichtlich ist, dass die Ovarien (denen im Prinzip die Eier ausgegangen sind) nicht beabsichtigen, den Fortpflanzungsmotor wieder anzukurbeln.

Anscheinend hat Ihr Körper in seiner Weisheit Hintergedanken, die ihn veranlassen, mit der Produktion der sogenannten Geschlechtshormone fortzufahren, ohne dass es dabei noch um Fortpflanzung ginge. Tatsächlich sprechen mehr und mehr Befunde dafür, dass zumindest eine der Aufgaben für diese gesteigerte, GnRH-initiierte Produktion von FSH und LH darin besteht, die Veränderungen anzukurbeln, die im Gehirn von Frauen mittleren Alters stattfinden.

Abbildung 3: Die Verbindung Hypothalamus – Hypophyse – Eierstöcke


Das Gehirn und die Fortpflanzungsorgane sind durch eine Reihe von Rückkopplungsschleifen eng miteinander verbunden.

Aus biologischen Gründen sind weibliche Vertreter der menschlichen Spezies in der Zeit ihrer Fortpflanzungsfähigkeit oft intellektuell, psychologisch und sozial leichter zu kontrollieren als vor der Pubertät (von Geburt an bis ins Alter von elf Jahren) oder nach der Menopause. Wenn wir ein Heim schaffen und eine Familie gründen, besteht unsere größte Sorge darin, Harmonie und Frieden zu bewahren. Wir wissen offenbar instinktiv, dass es in diesem Fall besser für alle ist, wenn wir Kompromisse schließen und uns selbst dann, wenn die Situation alles andere als ideal ist, jede Unterstützung sichern, die wir bekommen können, statt zu riskieren, ganz allein dazustehen. Auch wenn das unter Umständen heißt, dass wir unsere individuellen Ziele eine Zeit lang aus den Augen verlieren, bietet uns unsere Fähigkeit zur Anpassung Schutz. Wie eine aktuelle medizinische Studie in Schweden beispielsweise gezeigt hat, ist das Risiko für alleinerziehende Mütter, vorzeitig zu sterben, gegenüber Müttern mit Partnern um fast 70 Prozent erhöht. Und erstaunlicherweise war dieses erhöhte Risiko eines verfrühten Todes unabhängig von sozioökonomischen und gesundheitlichen Faktoren. Mit anderen Worten: Selbst alleinerziehende Mütter in gesicherten finanziellen Verhältnissen, die physisch und psychologisch gesund waren, gingen ein erhöhtes Risiko ein.8

Dieser Prozess, unser wahres Selbst zu sublimieren, beginnt früh, bereits in der Pubertät. Die »aktivistische« Geisteshaltung eines jungen Mädchens vor der Pubertät, seine kindliche Geradheit und Ehrlichkeit, seine Neigung, sich einzumischen, wenn es einen Konflikt gibt, all dies wird hormonell sublimiert. Auch wenn sich ein adoleszentes Mädchen vielleicht mit sozialer Ungerechtigkeit befasst, beschäftigt es sich wahrscheinlich noch intensiver mit seinem Körperbild und seiner Anziehungskraft auf das andere Geschlecht. Anders gesagt, während eine Frau biologisch auf Schwangerschaft, Kindererziehung und Sichsorgen um andere – alles lebenswichtige und arterhaltende Rollen – vorbereitet wird, treten die Konflikte der Welt im Allgemeinen für sie eher in den Hintergrund. Auch ihr Interesse an persönlichen Ungerechtigkeiten und Kindheitstraumen kann verblassen oder unterdrückt werden. Wahrscheinlich schenkt sie kleineren Vergehen kaum mehr als flüchtige Aufmerksamkeit, denn ihre eigenen Wunden zu lecken, alte Verletzungen zu analysieren oder seit Langem bestehende Missstände anzuprangern würde kostbare Energie erfordern. Sie muss ihre primäre Rolle erfüllen, die, biologisch gesprochen, darin besteht, sich fortzupflanzen und ihren Nachwuchs zu hegen und zu pflegen.

Dafür, dass sie sich in diese biologische Rolle fügt, wird sie angemessen belohnt. Die Geschlechtshormone sind direkt für die Stimulation von Opioid-Zentren im Gehirn verantwortlich. Diese Regionen produzieren rauschmittelähnliche Substanzen, die in den Blutstrom gelangen und ein natürliches Hochgefühl hervorrufen. In der fruchtbaren Phase des Menstruationszyklus, wenn eine Frau auf Männer am anziehendsten wirkt und für ihre Avancen besonders empfänglich ist, wird beispielsweise reichlich Östrogen ausgeschüttet. Hormone wie Prolactin und Oxytocin überfluten das System, wenn sie in mütterlicher Stimmung ist, ihr Baby stillt oder ihre Liebsten versorgt. Dieses starke Gefühl der Anziehung, dieses tiefe Gefühl der Befriedigung, dieser Mantel wärmender Liebe und Sinnerfüllung, die eine Frau empfindet, wenn sie sich um andere kümmert – all dies geht zum Teil auf natürliche, rauschmittelähnliche Substanzen zurück, die im Gehirn als Antwort auf Geschlechtshormone gebildet werden. Da es sich wunderbar anfühlt, wird sie darin bestärkt weiterzumachen. Das ist einer der Gründe dafür, dass Frauen so außerordentlich fürsorglich sind.

Abbildung 4: Kompensation im Verlauf des Lebenszyklus


Frauen, die lesbisch sind und/oder sich gegen eine Ehe bzw. Kinder entscheiden, sind nicht frei von diesem eingebauten Belohnungssystem, weil es in den ersten paar Tagen ihres Lebens als weiblicher Embryo in ihre Schaltkreise eingebrannt worden ist. Ob das Verhalten nun mit Schwangerschaft und Kinderaufzucht oder mit anderen Formen der Fürsorge verbunden ist, der biologische Rückkopplungsmechanismus ist unvermeidlich, stark und sehr, sehr positiv.

So hat die Forschung klar erbracht, dass, wenn Frauen unter Stress stehen, sie das Bindungshormon Oxytocin bilden, was die Unterstützung anderer befördert. Die Psychologin Dr. Shelley von der UCLA (University of California, Los Angeles) nennt das den Stress-Reflex des »Kümmerns und Sorgens« im Gegensatz zu dem eher männlichen »Kampf oder Flucht«-Reflex.9

Weisheit der Wechseljahre

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