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Stress und Temperament
ОглавлениеWissenschaftliche Untersuchungen haben eine Verbindung zwischen Temperament, Persönlichkeit und der Fähigkeit aufgedeckt, mit Stressfaktoren umzugehen. Ist Ihnen aufgefallen, dass einige Leute, gleichgültig, was ihnen im Leben auch widerfährt, anscheinend glücklich sind, während andere selbst dann, wenn es so aussieht, als gehe es ihnen gut, meist in einem tiefen Loch hocken? Oder dass Menschen ängstlich und furchtsam sind, wenn sie sich eigentlich sicher und geborgen fühlen könnten? Bis zu einem gewissen Grad sind wir mit einem dieser Temperamente geboren, und es gibt Belege für messbare biologische Unterschiede, die mit diesen verschiedenen Temperamenten einhergehen. Beispielsweise hat der Mediziner Stephen Porges herausgefunden, dass jedes Individuum von Geburt an sein charakteristisches Gleichgewicht zwischen PNS und SNS aufweist, was zum sogenannten »Vagustonus«15 führt.
Ihr individuelles PNS/SNS-Verhältnis lässt sich mithilfe eines Elektrokardiogramms (EKG) sichtbar machen und zeigt, wie Ihre Herzrate mit Ihrer Atemfrequenz koordiniert ist. Das erlaubt wertvolle Rückschlüsse auf Ihr Stoffwechselgleichgewicht und Ihre innere Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress. Porges hat gefunden, dass sogar bei frühgeborenen Babys diejenigen, die einen höheren Vagustonus haben (was bedeutet, dass Ihr parasympathisches Nervensystem stärker aktiviert ist), von äußeren Einflüssen auf der Säuglingsstation (wie dem Anlegen einer intravenösen Infusion) weniger unter Stress gesetzt werden als Babys mit einem niedrigen Vagustonus. Er beobachtete auch, dass die Persönlichkeitsmerkmale, die mit einem niedrigen bzw. einem hohen Vagustonus einhergehen (niedergeschlagen, melancholisch, besorgt, vertrauensselig, ängstlich, glücklich, widerstandsfähig), einen Menschen offenbar sein ganzes Leben lang begleiten.
Das sagt eine ganze Menge hinsichtlich unserer individuellen Reaktionen auf bestimmte Lebenssituationen. So ließ sich zum Beispiel klar belegen, dass ein Patient unter Umständen großen Stress empfindet, wenn er sich einem relativ geringfügigen medizinischen Eingriff unterziehen muss, während ein anderer bei einer viel schwierigeren Operation weitaus weniger Stress empfindet. Wahr ist aber auch, dass ein und derselbe Mensch manchmal auf eine Erfahrung kaum reagiert, zu einem anderen Zeitpunkt auf dieselbe Erfahrung aber eine massive physiologische Reaktion zeigt.
Aus diesem Grunde sind Versuche, eine Rangfolge für Stressfaktoren aufzustellen, nicht besonders sinnvoll. In einer aktuellen Untersuchung kam Dr. Charles B. Nemeroff von der Emory University School of Medicine zu dem Ergebnis, dass Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht oder physisch misshandelt wurden, im Vergleich zu Frauen ohne diese Erfahrungen später übertrieben starke körperliche Reaktionen auf Stress (wie zum Beispiel eine öffentliche Rede halten oder vor Publikum Rechenaufgaben lösen) zeigen. Ihr Risiko, im späteren Leben an Depressionen, Angstzuständen oder anderen emotionalen Störungen zu erkranken, ist ebenfalls erhöht.16 Wenn man sich die große Zahl von Frauen mit einer Vorgeschichte von Missbrauch der einen oder anderen Art vor Augen hält, kann es nicht überraschen, dass so viele Frauen in den Wechseljahren Stimmungsschwankungen und andere Probleme haben.
Eines der schlimmsten Dinge, die Menschen sich selbst antun können, ist es, sich wegen ihres angeborenen Temperaments oder ihres Reaktionsmusters auf Stress schuldig zu fühlen. Darum möchte ich nicht behaupten, dass es einen Königsweg für den Umgang mit Emotionen gibt. Das wäre nicht anders, als Frauen zu sagen, sie sollten nach einem idealen Gewicht, einer idealen Körpergröße, Kleidergröße usw. streben. Im Übrigen scheint jedes Temperament seinen Träger zu einer bestimmten Art von Genie zu befähigen. Wenn Sie Ihr Leben beispielsweise damit verbringen, sich zu wünschen, Sie hätten eine »gesündere« Art von Temperament, dann würden Sie Ihr ganzes Genie und Ihre natürlichen Gaben nicht voll ausschöpfen.