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Susan: In den Wechseljahren für sich selbst einstehen
ОглавлениеMit 45 Jahren schrieb Susan: »Die Wechseljahre sind für mich der Mut und Antrieb, den ich mein ganzes Leben lang gebraucht habe.« Susans Eltern waren Alkoholiker, und während sie »feierten«, mussten sie und ihr Bruder sich um den Haushalt und die jüngeren Geschwister kümmern. Mit 18 Jahren verließ sie ihr Elternhaus und heiratete.
»Natürlich heiratete ich einen Alkoholiker, wenn ich dies auch erst Jahre später erkannte. Unsere Beziehung war sehr kontrollierend und missbräuchlich – mental, emotional und physisch. Er kontrollierte alle meine Entscheidungen: wann ich meine Familie sah, wo ich arbeitete, welche Möbel angeschafft wurden und welchen Wagen ich fuhr, bis zu der Entscheidung, keine Kinder zu haben. Ich machte mir vor, dass wir eine wunderbare, enge Beziehung hätten. Wir wurden wie meine Eltern, feierten und tranken an den Wochenenden, genauso, wie sie es taten – ich trank, um meinem Mann Gesellschaft zu leisten und ›Teil‹ von etwas zu sein. Ich begann, bis zu zwei Päckchen Zigaretten pro Tag zu rauchen. Als ich mit 30 Jahren schwanger wurde, überredete er mich zu einer Abtreibung, weil er gerade zu sehr unter Druck stünde, und versprach, wir würden im darauffolgenden Jahr einen neuen Versuch unternehmen. Stattdessen hatte er eine Affäre. Ich harrte aus, und schließlich beendete er die Beziehung und kehrte zu mir zurück. Ich sah das als Beweis an, dass er mich wirklich liebte.«
Vier Jahre später vereinbarte Susan eine Paartherapie, doch im letzten Moment weigerte sich ihr Mann mitzugehen. Statt die Sache abzublasen, ging sie allein. Auf Anregung ihres Beraters begann sie, die Treffen von Adult Children of Alcoholics (Erwachsene Kinder von Alkoholikern) und der Anonymen Alkoholiker zu besuchen. Dort merkte sie, dass sie nicht allein war. Das war für sie der Beginn eines neuen Lebens.
Für Susan war der erste Meilenstein, über ihre Abtreibung zu reden. Als Nächstes hörte sie mit dem Rauchen auf. »Das eröffnete mir eine ganz neue Welt. Ich musste nicht länger meine Gefühle unterdrücken und mir, statt zu reden, eine Zigarette anzünden. Ich hatte einen Mund. Ich hatte etwas zu sagen, und oho!, ich sagte eine ganze Menge – ich hatte buchstäblich Rededurchfall. Und eine solche Ehrlichkeit!« Dann hörte sie zu trinken auf. »Mein Mann mochte dieses neue Ich überhaupt nicht. Ich war nicht länger ein Partygirl, das nach seiner Pfeife tanzte.«
Als sich Susan veränderte, fühlte sie sich in zwei Teile gerissen, weil sich das Leben um sie herum, das Leben, das ihr Mann für sie zurechtgeschneidert hatte, überhaupt nicht änderte. »Ich wurde zu einer verheirateten Frau, die ein Single-Leben führte. Wir gingen nirgendwo mehr gemeinsam hin und taten auch überhaupt nichts mehr gemeinsam.« Sie gingen zu Eheberatungsstellen, trennten sich, versöhnten sich, er machte eine Alkoholtherapie, doch alles ohne Erfolg. Dann kam der ultimative Kick – das Klimakterium! Susan schrieb: »Ich kam mit 42 Jahren in die Wechseljahre und ich hatte wirklich das Gefühl, dass mir dies den Mut und den Antrieb und die Ehrlichkeit gab, mir mein Leben anzusehen und klar zu erkennen, was ich wollte und was ich brauchte.« Sie begann, »so viele Dinge« zu tun, »die ich schon immer tun wollte und nie getan habe«.
Abbildung 5: Warum traumatische Erinnerungen in der Lebensmitte wieder aufbrechen
Die Gedächtniszentren des Gehirns weisen viele Rezeptoren für Hormone auf, die während der Wechseljahre Schwankungen unterliegen.
Schließlich reichte sie die Scheidung ein und begann ein neues Leben, so wie sie es sich immer gewünscht hatte, 3000 Meilen von ihrem Geburtsort New York entfernt. »Ich hatte einen so einfachen Übergang«, freute sie sich. »Ich ließ mein ganzes Leben dort zurück – Mann, Beruf, Freunde und alles bis auf die paar Dinge, die ich eingepackt habe, als ich ging –, aber ich habe wohl in meiner Ehe meinen Teil Trauerarbeit geleistet. Mein Leben ist heute so erfüllt.«
Die erste Verteidigung gegen unerfreuliche Erinnerungen und Emotionen ist Verdrängung. Dieses Schlupfloch funktioniert oft recht gut – bis zum Klimakterium, wenn die hormonelle Schwerpunktverlagerung und die damit einhergehenden Veränderungen der Gehirnaktivität zusammenwirken und vergrabene Traumen und ungelöste Probleme durch körperliche Symptome ans Licht bringen, die sich nicht ignorieren lassen. Was auch immer die schwärenden Wunden einer Frau verursacht, man kann die Wechseljahre als eingebautes Hilfsmodul ansehen, das sie auf eine tief gehende Heilung vorbereitet.
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehen mag, ist dies ein Geschenk. Zusätzlich zu der Klarsicht und dem Mut, die uns die Wechseljahre verleihen, sich vergangenen Schmerzen zu stellen, können sie einer Frau helfen, einen Schritt zurückzutreten, die Notwendigkeit einer Veränderung anzuerkennen und alles Nötige zu tun, um sich von alteingeschliffenen destruktiven Lebensmustern zu trennen. Selbst sehr tief eingeschliffene Muster lassen sich mithilfe der vom Klimakterium eingeleiteten Verschiebungen im Gehirn und den damit einhergehenden Verlagerungen von Energie und Aufmerksamkeitsschwerpunkt verändern.