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Die Legende von Puerto Rico, 1970

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Hier haben wir mehrere wahre Geschichten miteinander kombiniert und eine daraus gemacht.

– D. R.

Den Hut habe ich noch.

– C. C.

Der Wecker hörte nicht auf zu klingeln.

Clarence drehte sich um und zog sich das Kissen über den Kopf. Sein Kopf schmerzte. Er erinnerte sich an die Trinkerei gestern Abend. Er hatte früh damit angefangen.

Es klingelte immer noch.

Clarence stöhnte, drehte sich um und öffnete die Augen. Er befand sich in einem Hotelzimmer. Er erinnerte sich nicht daran, wie er hierhergekommen war, sich ausgezogen hatte oder überhaupt in dieses Bett gekommen war. Die Bewegung machte ihn schwindelig. Langsam drehte er den Kopf zurück, um den verdammten Wecker zu lokalisieren. Einen Wecker gab es gar nicht in diesem Raum. Es war das Telefon, das klingelte. Es stand auf dem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite. Clarence stöhnte und wälzte sich aus dem Bett. Als er bemerkte, dass er vollständig angezogen war, stolperte er durch den Raum und nahm den Hörer auf.

„Hallo“, sagte er. Seine Stimme war unglaublich tief.

„Hi, Clarence“, sagte eine Mädchenstimme.

„Hi“, sagte er zögernd. Er erinnerte sich, dass er in Puerto Rico war. Er war hierhergekommen, um herumzuhängen, die Clubs unter die Lupe zu nehmen und ein bisschen Ganja zu rauchen. Die Stimme des Mädchens erkannte er nicht.

„Hier ist Ginger“, sagte sie.

Nichts.

„Von gestern Abend“, fügte sie hinzu.

Nichts.

„Aus dem Danny’s Hideaway?“, sagte sie, und ein leichter Ton von Verstimmung war in ihrer Stimme zu spüren.

Clarence wusste, dass Danny’s Hideaway ein Club in San Juan war, den er hatte besuchen wollen. Er konnte sich nicht erinnern hingegangen zu sein. Er entschloss sich zu bluffen.

„Ach, klar“, sagte er. „Wie gehts?“

„Prima“, sagte sie. „Soll ich rüberkommen?“

Das war eine Frage, die weitere Fragen aufwarf. Beängstigende Fragen.

Wer war diese Tussi? Woher wusste sie, wo er war, wenn er sich da selbst nicht sicher war. Was, wenn sie eine fette Alte war?

„Ähmmm ...“, sagte er.

„Hab ich dich geweckt?“, fragte sie.

„Nein“, sagte er. „Ich musste sowieso aufstehen, um ans Telefon zu gehen.“

Sie lachte. Es klang nicht wie das Lachen eines dicken Mädchens, aber man kann sich täuschen. „Du warst so lustig letzte Nacht“, sagte sie.

„Wirklich?“, fragte er.

„O Gott“, sagte sie, „zum Totlachen komisch.“

„Uuh“, sagte er. „Wie spät ist es?“

„Mittag“, sagte sie. „Ich bin grad vom Jogging zurückgekommen.“

Vielleicht eine Alte, aber nicht fett. Sie klang weiß. Clarence hatte sich noch nie mit einem weißen Mädchen verabredet. Weiße Mädchen schüchterten ihn ein – wobei er auch sie einzuschüchtern schien.

„Hör zu“, begann er. „Ich hab noch was zu erledigen. Ein paar Dinge. Warum treffen wir uns nicht später auf einen Drink?“ Der Gedanke an einen Drink ließ Übelkeit in ihm aufsteigen.

„Wie wärs wieder bei Danny’s?“, sagte er. „Sagen wir um acht?“

„Ich denke, durch die Hintertür werden sie dich schon reinlassen“, lachte sie.

Scheiße. Was hatte er gemacht?

„So schlimm wars nicht, oder?“, fragte er.

„Nein“, sagte sie. „Aber ich glaube, du hast das Klavier zerkratzt, als du draufgestiegen bist.“

Scheiße.

„Yeah“, sagte er.

„Du hast trotzdem das Haus gerockt“, sagte sie. „Mann, kannst du tanzen!“

Er tanzte nie. Er war ein lausiger Tänzer.

„Das bin ich“, sagte er. „Ich bin ein Tänzer.“

Er erreichte die Bar um halb acht an diesem Abend, nachdem er den Tag damit verbracht hatte, den Alkohol auszuschwitzen und so viele Erinnerungslücken zu schließen, wie er konnte. Er hatte am Abend zuvor das Hotel kurz nach dem Einchecken verlassen. Er wollte ein paar Drinks zu sich nehmen und sich danach auf den Weg zu Smooth Gary Walker und den Immortals machen, die in Johnny’s Dreambar auftraten. Ein Drink folgte dem anderen, alle waren so nett und wollten dem großen schwarzen Typen einen ausgeben. Für die Zeit danach bestand seine Erinnerung nur noch aus Bruchstücken: ein paar Gesichter, Musikfetzen, das Gefühl von Hitze um seinen Kopf und verqualmte Räume und Lichter und Zähne und Leute auf dem Gehweg, die ihn anguckten und ihm Platz machten … Der Rest: Blackout.

„Du wirst dich heute Abend gut benehmen, oder?“, sagte eine Stimme hinter ihm.

„Yeah, Mann. Hör zu, ich entschuldige mich für das, was passiert ist, was auch immer passiert ist“, sagte er.

„Ist in Ordnung. Du hast eine Menge Drinks umgesetzt. Hast hier für eine wirklich klasse Party gesorgt. Normalerweise ist hier so spät nichts los. Halt dich nur vom Klavier fern, okay?“, sagte der Typ.

„Ich versprechs dir“, sagte Clarence.

„Tommy, gib dem großen Mann einen Drink, geht auf mich“, sagte der Typ. „Ich bin Tony Desilva.“

„Clarence Clemons.“

„Yeah, hast du gestern Abend schon gesagt“, meinte Tony. „Du hast mir deine ganze Lebensgeschichte erzählt. Vom Football, von der So­­­zialarbeit, vom Saxofon, all das.“

„Tschuldigung“, sagte Clarence.

„Nimm dich vor Ginger in Acht. Die Tussi ist frech. Ich hab noch nie gesehen, dass sie sich mit jemandem eingelassen hat, jedenfalls nicht so wie mit dir“, sagte er.

„Sie ist scharf, oder?“, fragte Clarence.

„Irre scharf“, sagte Tony. „Sie ist seit ein paar Wochen in der Stadt beim Film, aber keiner hat es geschafft, sie zu knacken, bis du hier aufgetaucht bist.“

„Ich kann nichts dafür, dass ich unwiderstehlich bin“, sagte Clarence.

„Sei brav!“, sagte Tony, als er in den Hauptraum des Clubs ging.

Später, als Ginger durch die Eingangstür schritt, dachte Clarence, sie sei die schönste Frau der Welt. Große grüne Augen, rothaarig, milchig-weiße Haut und ein Lächeln wie Sonnenstrahlen.

„Clarence!“, sagte sie, als sie herüberkam und ihn umarmte. Er war zu benommen, um sich zu bewegen. Normalerweise hätte er sich niemals getraut, sich dieser Frau zu nähern, geschweige denn, sie anzusprechen.

„Hey“, war alles, was er herausbrachte.

„Bist du okay?“, fragte sie, trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn eingehend.

„Yeah, mir gehts gut“, sagte er.

„Sicher?“, fragte sie.

„Definitiv“, sagte er. „Wieso fragst du?“

„Weiß nicht“, sagte sie. „Du kommst mir so anders vor als gestern Abend.“

„Ich war gestern Abend betrunken“, sagte er.

„Hmmmmmm“, sagte sie.

Sie saßen zusammen und redeten etwa zehn Minuten miteinander.

„Du solltest immer betrunken sein“, folgerte sie. „Das wertet dich auf.“

Er lachte. „Vielleicht hast du recht.“

„Du bist wirklich die meiste Zeit so drauf, oder?“, fragte sie und nippte an dem Martini, den er ihr ausgegeben hatte. Er trank ­Limonade.

„Yeah“, sagte er. „Das stimmt so ziemlich.“

„Ist ganz recht so“, sagte sie. Er ahnte, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. „Wir hätten sowieso ein Riesenproblem gehabt.“

„Weil ich schwarz bin?“, bot er ihr an.

„Nein“, sagte sie. „Weil ich lesbisch bin.“

„Ahhh“, sagte er. Es war eine Art neutraler Laut, wie um sie zu ermutigen weiterzureden.

„Ich bin wirklich nicht an Männern interessiert“, sagte sie. „Aber du hast mir so viel Spaß gemacht, hey, was solls ... aber ...“ Sie trank aus. „Es wäre nicht gut gegangen.“

„Wahrscheinlich nicht“, sagte er. „Ich wäre endlich nüchtern geworden.“

„Yeah“, stimmte sie zu. „Würdest du mich entschuldigen? Ich geh mich mal frisch machen.“

„Sicher“, sagte er im Stehen, als sie den Barraum verließ.

Er wusste nicht, ob er nun erleichtert oder beleidigt sein sollte. Er fühlte sich ein bisschen von beidem. Er setzte sich wieder hin und nippte an seiner Limonade. Über die Absurdität der ganzen Angelegenheit musste er laut lachen. Sie war komisch. Man konnte weinen oder man konnte lachen, also lachte er.

Augenblicke später näherte sich ein Typ, der an der Bar gegenüber gesessen hatte. Clarence hatte ihn bemerkt, als er hereinkam, denn er war schwarz und trug einen coolen Panamahut.

„Hey, Bruder.“ Der Typ streckte seine Hand aus und hielt sie ihm selbstsicher für den Soulshake des Monats entgegen.

„Na, wie gehts?“, sagte Clarence. Sie taten, als würden sie sich durch den Handschlag kennenlernen. Sie waren die einzigen Schwarzen hier.

„Ich bin Smooth Gary Walker“, sagte der Typ.

„Gott verdammt, tatsächlich?“, sagte Clarence, schüttelte seine Hand noch einmal. Dieses Mal machte er es auf die herkömmliche, altmodische Art.

Gary lächelte.

„Tatsächlich?“, sagte Clarence noch einmal. „Ich hatte vor, dich heute Abend hier zu sehen.“

„Heute Abend sind wir nicht da“, sagte Gary. „Tut mit leid.“

„Ihr spielt morgen?“

„Oh, ja“, sagte Gary. „Zwei Shows. Um acht und um zehn, eigentlich aber eher um neun und um elf oder halb zwölf.“

„Ich spiele auch Sax“, sagte Clarence.

„Cool“, sagte Smooth Gary, der nicht wirklich zuhörte. Er sah an Clarence vorbei.

„Ich hab deinen Song Dreamboy immer gemocht“, sagte Clarence.

„Schön“, sagte Gary. „Hör mal zu. Die Frau, mit der du gerade geredet hast ... ist sie ... ich meine ... seid ihr beide ...?“ Er brach ab.

Clarence hatte bemerkt, dass Gary sich nicht für ihn interessierte, und es schmerzte ein wenig. Es war besser, seine Helden niemals wirklich zu treffen. „Nun ja“, sagte er. „Kann schon sein.“

„Die Frau sieht toll aus“, sagte Gary.

„Yeah, sie ist scharf, das stimmt“, sagte Clarence.

„Aber es sieht aus, als wärst du als Erster an ihr dran, und das ist eben mein Pech, stimmts?“, sagte Gary.

„Ich meine ...“

„Ich meine? Ich meine was?“

„Ich meine, vielleicht könnten wir uns ja einigen“, sagte Clarence. „Ich könnte weg sein, wenn sie wiederkommt.“

„Würdest du das tun, Mann?“, sagte Gary.

„Vielleicht“, sagte Clarence. Jetzt war es an ihm, zögerlich zu sein.

Gary langte in seine Tasche. „Was würde es kosten?“, fragte er.

„Deinen Hut“, sagte Clarence.

Gary fasste an die Hutkrempe. „Das ist ein Montecristi fino“, sagte er. „Irgendein Typ in Panama hat einen Monat damit verbracht, dieses Scheißding zu flechten.“

„Sie scheint Brüder zu lieben“, sagte Clarence.

Gary überlegte einen Augenblick, nahm dann den Hut ab und sah ihn sich an. Clarence betete, dass Ginger noch eine Minute auf der Toilette bleiben würde.

„Willst du ihn mal anprobieren?“, fragte Gary.

Clarence tat es und er saß perfekt.

„Abgemacht?“, fragte Clarence.

„Abgemacht“, sagte Gary.

Clarence stand auf. „Viel Glück“, sagte er. „Und bestell dir einen Martini auf meine Rechnung.“

„Ich rühre keinen Alkohol an“, sagte Gary. „Aber trotzdem danke.“

Clarence lächelte, tippte an seinen neuen Hut und ging nach draußen in die drückend heiße Nacht.

Clarence Clemons - Big Man

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