Читать книгу Ausstieg / Glücksspieler / Gefährliche Erben - Drei Romane in einem Band - Elfi Hartenstein - Страница 60
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ОглавлениеFriederike Brettschneider war im Haus unterwegs, als ihr Mobiltelefon klingelte und ein aufgebrachter Pförtner ihr meldete, eine Frau Dr. Westphal bestehe darauf, dass ihre Besuchserlaubnis für die in U-Haft befindliche Frau Remy Straub auch außerhalb der regulären Besuchszeiten gelte. Sie ließe sich einfach nicht abwimmeln. Was er tun solle?
„Bitten Sie sie um einen Moment Geduld, Herr Pohl. Ich komme vorbei und hole sie ab.“ Die Stimme der Anstaltsleiterin klang freundlich und nicht die Spur überrascht. Pohl wunderte sich. Dass die Anstaltsleiterin persönlich einen zivilen Besucher in Empfang nahm, hatte er bisher noch nicht erlebt. Misstrauisch beäugte er die vor seinem Fenster mit einem Arztkoffer in der Hand stehende Frau noch einmal, bevor er die Luke erneut öffnete und etwas hinaus nuschelte, was nicht wirklich als Information durchgehen konnte. Die Frau mit dem Arztkoffer schien immerhin das „in einem Moment“ herausgehört zu haben, denn sie nickte und ließ es widerspruchslos geschehen, dass Pförtner Pohl seine Luke wieder schloss.
Wenige Minuten später war Friederike Brettschneider an der Pforte angelangt. Sie warf nur einen kurzen Blick auf die ihr von Sylvie Westphal entgegengestreckte Bescheinigung, signalisierte dem Pförtner, dass alles seine Ordnung habe und forderte die Ärztin mit einer Handbewegung auf, mit ihr zu kommen.
„Hauptkommissar Feldmann schickt Sie?“, fragte sie. Und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Ich gehe davon aus, dass er Sie darüber informiert hat, dass wir Frau Straub in die Beruhigungszelle bringen und sedieren mussten.“
„Ich weiß Bescheid“, nickte die Ärztin. Einen kurzen Augenblick lang kamen ihr Zweifel, ob Feldmann ihr tatsächlich gesagt hatte, die Anstaltsleiterin sei eingeweiht, oder ob sie das eher nicht voraussetzen sollte. Sie konnte, wie sie so neben ihr her ging, ihrem Gesichtsausdruck nichts entnehmen.
Brettschneider enthob sie ihrer Bedenken. „Ich bin froh, dass Sie so schnell kommen konnten. Wenn Sie die ärztliche Betreuung von Frau Straub übernehmen, gibt es keinen Grund mehr, weiterhin unsere Anstaltsärztin zur Beurteilung ihres Zustands einzuschalten.“
„Verstehe“, murmelte Sylvie Westphal. Dann nahm sie die Andere voll in den Blick. „Oder vielleicht doch nicht ganz. Wer schaltet denn hier eigentlich wen ein? Sind Sie nicht diejenige, die ...?”
„Wie gesagt, ich bin sehr froh, dass Sie so schnell kommen konnten.“
Sylvie Westphal verstand, dass sie nicht weiter nachhaken sollte. „Sie werden dafür sorgen, dass meine Unterredung mit Remy Straub weder überwacht noch sonst wie mitgeschnitten, aufgezeichnet oder was auch immer wird.“
Die Anstaltsleiterin nickte stumm.
Als sie vor der Tür der Beruhigungszelle standen, ließ Brettschneider sich von der Schließerin den Schlüssel aushändigen. „Ich mache das hier für Sie. Sie können gern inzwischen eine Tasse Kaffee trinken gehen. Sagen wir ... eine halbe Stunde. Passt das?“ Ihr Blick wanderte, Bestätigung erbittend, zu Dr. Westphal. Die hob die Schultern. „Vielleicht. Vielleicht nicht.“
„Wir rufen Sie, wenn wir Sie brauchen“, beschied Brettschneider der Schließerin, die sich sogleich zurückzog.
Dann öffnete die Anstaltsleiterin die Tür für Sylvie. „Klopfen Sie einfach, wenn Sie etwas brauchen, ich bleibe in der Nähe.“ Damit zog sie die Tür wieder hinter ihr zu.
Remy Straub hockte mit dem Rücken an der Wand auf dem Boden gegenüber der Tür und starrte die Fremde mit dem Arztkoffer misstrauisch an.
„Ich bin Dr. Sylvie Westphal“, stellte diese sich vor. „Hauptkommissar Lou Feldmann schickt mich.“
Remy senkte den Blick auf den Boden. Sie schien nachzudenken. „Feldmann?“, brachte sie schließlich hervor. Es war nicht zu verkennen, dass ihr das Sprechen Mühe bereitete. Sie drückte sich langsam an der Wand nach oben. Sie schwankte.
„Darf ich?“, fragte die Ärztin und griff nach ihrer Hand. Sie fühlte nach ihrem Puls, zog ihr ein Augenlid nach oben und hielt, als sie merkte, dass Remy wieder in die Knie gehen wollte, ihren Arm fest.
„Sie haben die Beruhigungsmittel, die man Ihnen verpasst hat, zum großen Teil wieder ausgespuckt?“
„Die Tabletten. Aber was sie mir gespritzt haben ... Ich glaube, die wollen mich vergiften.“
Sylvie Westphal schüttelte den Kopf. „So weit lassen wir es nicht kommen.“ Sie ließ Remys Arm los. „Geht es so?“
Remy nickte.
„Dann“, sagte die Ärztin, „klären wir jetzt, wie wir weiter vorgehen.“ Sie stand so nah vor Remy, dass sie ganz leise sprechen konnte. „Vor allem und zuerst: Ich bin Ihre Hausärztin. Schon immer gewesen. Ist das klar?“
Remy nickte wieder.
„Wir gehen schrittweise vor. Lou Feldmann kümmert sich um einen neuen Anwalt für Sie. Gemeinsam bringen wir Sie in ein paar Tagen hier raus. Als Erstes lasse ich Sie auf die Krankenstation verlegen.“
Als sie Remy Straubs zu Boden gerichtete Augen bemerkte, bekräftigte sie: „Vertrauen Sie mir. Auf der Krankenstation wird man Sie ohne meine Einwilligung nicht weiter mit Beruhigungsmitteln vollpumpen. Aber für den Moment müssen Sie mitspielen. Sonst bringt man Sie in die Psychiatrie.“
Sie fasste nach ihrem Arm.
„Ich halte Sie. Versuchen Sie jetzt, so tief wie möglich zu atmen. Sie brauchen keine Angst zu haben. Atmen Sie. Tief, tief atmen. Immer weiter, tief, nicht aufhören. Sie werden ohnmächtig werden, aber das ist nicht schlimm. Ich bin bei Ihnen. So – atmen, noch einmal, noch einmal, atmen Sie, atmen Sie mehr, mehr, Sie bekommen keine Luft, Sie atmen
Während Dr. Westphal sprach, bemühte Remy sich, ihren Anweisungen zu folgen. Mit geschlossenen Augen stand sie da, atmete, rang nach Luft, atmete tief und tiefer. Die Stimme neben ihr redete beruhigend auf sie ein.
„So ist es gut, sehr gut. Weiter so. Atmen, ganz tief atmen. Atmen, atmen, atmen ...”
Als Remy die Beine wegknickten, fing Sylvie sie auf und legte sie behutsam flach auf den Boden. Dann hämmerte sie gegen die Tür. Das Gesicht der Anstaltsleiterin tauchte umgehend im Rahmen des Beobachtungsfensters auf, im selben Moment öffnete sich auch schon die Tür.
„Rufen Sie einen Krankenwagen“, sagte Sylvie Westphal, die wieder neben der Ohnmächtigen kniete. „Schnell.“