Читать книгу Ausstieg / Glücksspieler / Gefährliche Erben - Drei Romane in einem Band - Elfi Hartenstein - Страница 64
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ОглавлениеHauptkommissarin Eva Hennings war in Eile. Für acht Uhr dreißig hatte sie die Leiterin der Frauenhaftanstalt Friederike Brettschneider alias ,Samantha‘ einbestellt. Als sie ihren Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Dienstgebäude abstellte, zeigte der Minutenzeiger an ihrer Uhr deutlich auf die Drei. Hennings hasste es, wenn ihr vor einer Vernehmung die Zeit zu knapp wurde, um sich den Vorgang noch einmal vor Augen führen und zumindest die eigenen Notizen in Ruhe durchlesen zu können. Sie hatte die Umleitung nicht mit eingerechnet. Dabei hatten Verkehrspolizei und Straßenbauamt gestern für einen beträchtlichen Streckenabschnitt ihres Arbeitswegs die Totalsperrung angekündigt. Irgendwo waren Bauarbeiter wieder einmal auf eine Fliegerbombe gestoßen, ein ganzes Viertel musste evakuiert werden. Die Information darüber war an ihr vorbeigezogen, aber nicht wirklich angekommen. Die Speicherkapazität ihres Gehirns schien momentan für derartige Alltagsgeschehnisse nicht auszureichen. Dass Lou Feldmann sich nach Medweds Festnahme vor drei Tagen selbst vom Dienst suspendiert hatte, machte sie immer noch wütend. Gegen alle Absprachen stand sie jetzt allein auf weiter Flur, um das Chaos dieses Falls zu lichten. Das schadenfrohe Grinsen ihrer Kollegen war dabei nicht besonders hilfreich.
Als Hauptkommissar Arno Schneider vom LKA 2 ihr auf dem Flur den Weg versperrte, um sich unter Zuhilfenahme eines unverfänglichen Smalltalk-Programms nach Lou Feldmann zu erkundigen, überlegte sie kurz, ob sie explodieren oder die Zähne zusammenbeißen sollte. „Am besten rufst du ihn selbst an und lädst ihn zum Kaffeeplausch ein“, fertigte sie Schneider spitz ab, der ihr verdutzt nachschaute, wie sie hinter ihrer Bürotür verschwand.
Acht Uhr fünfundzwanzig. Sie würde sich erst wenn die Brettschneider da war, um Kaffee kümmern. Das entspannte auch die Situation. Jetzt die Akte Iwanowa. Und die Protokollnotizen zu ,Samantha’ Friederike Brettschneider.
Pünktlich um halb neun klopfte es an der Tür. Friederike Brettschneider trug einen hellgrauen Hosenanzug, ein pinkfarbenes Top darunter, dazu den passenden Lippenstift, graue Riemchenpumps und eine gleichfarbene Umhängetasche. Sehr schick, dachte Eva Hennings, neidisch könnte man werden. Sie ließ ihre Notizen sinken, erwiderte den Gruß der an der Tür Stehengebliebenen und forderte sie mit einer Handbewegung auf, sich auf einen der Stühle vor ihren Schreibtisch zu setzen.
„Kaffee?“, fragte sie und erhob sich.
„Gern.“
„Milch? Zucker?“
„Nein danke. Schwarz.“
Die Anstaltsleiterin rückte mit dem Rücken ganz an die Stuhllehne und atmete hörbar ein und aus. Sie war unverkennbar nervös. Bis Eva Hennings mit zwei Kaffeebechern in den Händen zurückkam, hatte sie sich etwas gefangen.
„Sind Sie bereit?“, fragte Hennings.
Brettschneider sah sie erstaunt an. „Zeichnen Sie die Vernehmung nicht auf?“
Hennings schüttelte den Kopf. „Wir sprechen nur miteinander. Keine Vernehmung. Ein vertrauliches Gespräch, wenn Sie so wollen.“
„Ja, aber ...?”
„Ich brauche Ihre Hilfe. Und Sie brauchen meine. Bei dem einen oder anderen Punkt werde ich mir Notizen machen.“
Brettschneider nickte. „Und Hauptkommissar Feldmann?“
„Hauptkommissar Feldmann hat den Fall ganz an mich abgegeben. Genauer gesagt, er hat sich ...” Sie brach ab. Aus dem Dienst zurückgezogen, wollte sie sagen, das Handtuch geworfen, sich frühzeitig in den Ruhestand versetzen lassen – du lieber Himmel, warum habe ich mir denn bitte keine genaue Formulierung zurechtgelegt? Sie hätte sich ohrfeigen können.
„Sich beurlauben lassen?“, kam Brettschneider ihr zu Hilfe.
„So ähnlich“, nickte Hennings. „Fangen wir an?“
Falls Friederike Brettschneider verwundert war, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Ich muss unter anderem einen Mord aufklären“, begann Eva Hennings. „Zwei Morde“, verbesserte sie sich schnell. „Irene Hanke und Elena Iwanowa. Ich plaudere kein Geheimnis aus, wenn ich Ihnen verrate, dass Lou Feldmann und ich davon ausgehen, dass zwischen beiden ein Zusammenhang besteht.“
Die Anstaltsleiterin nickte.
„Um Ihnen Ihre Aussagen zu erleichtern, verspreche ich Ihnen, dass es dabei bleibt, dass von ,Samantha‘ nichts in meine Notizen eingeht. Darüber reden müssen wir trotzdem.“
Die Anstaltsleiterin nickte erneut.
„Sie haben unter dem Namen ,Samantha‘ für Elena Iwanowas Hostessenservice gearbeitet. Wie lange ging das?“
„Drei oder vier Jahre. Vielleicht länger.“
„Finanziell hatten Sie das aber nicht nötig?“
„Nein.“
„Hat jemand Sie dazu gezwungen?“
Brettschneider, die sich vorgebeugt hatte, schüttelte den Kopf und straffte ihren Rücken. „Es hat mir einfach Spaß gemacht. Auch wenn ...” Sie biss sich auf die Lippen.
„Auch wenn was?“
„Ich wollte sagen, auch wenn Sie sich das vielleicht nicht vorstellen können.“
„Ach“, sagte Eva Hennings schulterzuckend, „in meinem Job wird man mit allem Möglichen, was andere sich nicht vorstellen können, konfrontiert. In Ihrem doch sicher auch?“
„Das kann man wohl sagen.“
„Wenn Sie über mehrere Jahre für Frau Iwanowa gearbeitet haben, ohne finanziell darauf angewiesen zu sein, waren die Arbeitsbedingungen offenbar nicht unangenehm.“
„So ist es.“
„Und nach dem Mord an Frau Iwanowa dachten Sie, es läuft genauso weiter?“
„Mir wurde mitgeteilt, dass der Hostessenservice weiterbesteht.“
„Von wem wurde Ihnen das mitgeteilt?“
„Ich habe mich erkundigt. Im Café Lilo.“
„Aha. Und?“
„Und da war Sergej Medwed, der gesagt hat, er habe die Geschäfte von Elena Iwanowa übernommen. Ich hatte keinen Grund, das anzuzweifeln.“
„Das heißt, Sie sind praktisch sofort, oder sagen wir, wenige Tage nach Frau Iwanowas Tod, bei Medwed vorstellig geworden?“
„Stimmt.“
„Dass sie ermordet wurde, scheint Sie nicht sehr beeindruckt zu haben.“
Als die Anstaltsleiterin nicht antwortete, griff Eva Hennings nach ihrer Kaffeetasse und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Der Kaffee war inzwischen kalt. Sie setzte die Tasse, ohne davon getrunken zu haben, wieder auf den Schreibtisch zurück.
„Welchen Eindruck hatten Sie von Sergej Medwed?“, nahm sie den Faden wieder auf.
„Er wirkte auf mich ... ich habe keine Erfahrung mit russischen Männern“, antwortete Friederike Brettschneider ausweichend.
„Aber doch mit Kriminellen im Allgemeinen.“
Brettschneider beugte sich vor. „Sehen Sie jemandem, der hinter der Theke eines Cafés steht, an, ob er kriminell ist oder nicht?“
„Okay“, sagte Eva Hennings, „dann frage ich anders: Ab wann war Sergej Medwed für Sie kein vertrauenswürdiger Chef mehr?“
„Als klar wurde, dass er die Konditionen ohne Rücksprache zu seinen Gunsten geändert hat.“
„Kennen Sie andere Frauen aus Frau Iwanowas Hostessenservice und haben Sie sich mit denen über die neue Geschäftsleitung ausgetauscht?“
„Kennen wäre zu viel gesagt. Man begegnete sich ja allenfalls zufällig im Café Lilo. Von sich über etwas austauschen kann nicht die Rede sein.“
Hennings seufzte. „Aber Remy Straub war Ihnen bekannt?“
„Sie war für die Abrechnungen zuständig. Die wurden im Café Lilo getätigt. Und es war kein Geheimnis, dass Remy Straub auch die Buchhaltung insgesamt gemacht hat.“
„Hat die Atmosphäre im Café Lilo sich verändert seit Medweds Auftauchen?“
„Dazu kann ich nichts sagen.“
„Die Gäste waren dieselben?“
„Das kann ich nicht beurteilen.“
„War das Café auch ein Umschlagplatz für Drogen?“
„Davon weiß ich nichts.“ Die Anstaltsleiterin kramte in ihrer Tasche nach einer Packung Zigaretten. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ...?”
Eva Hennings schüttelte den Kopf, holte aus ihrer Schreibtischschublade einen Aschenbecher hervor, schob ihn über den Tisch und stand auf, um das Fenster zu öffnen.
Einen Moment lang blieb sie, den Blick nach draußen gerichtet, dort stehen. Lou Feldmann, dachte sie, an diesem Gespräch hättest du teilnehmen sollen. Zu zweit wären wir längst auf den Punkt gekommen. Entschlossen wandte sie sich wieder um. „Warum ist Sergej Medwed bei Ihnen vorstellig geworden?“
„Er hat eine von den Schließerinnen gesucht, die sich ein Zubrot verdienen wollte“, sagte die Anstaltsleiterin. „Darüber haben wir doch bereits gesprochen.“
„Was genau hat er zu Ihnen gesagt?“, bohrte Eva Hennings nach.
„Er hat gesagt, Remy Straub habe irgendwelche Papiere aus den Unterlagen des Hostessenservice verschwinden lassen. Er brauche diese dringend. Und wenn sie sie ihm nicht übergeben wolle, müsse man sie einschüchtern. Oder ihr einen Denkzettel verpassen ... etwas in der Art. Wörtlich weiß ich das nicht mehr.“
„Aber Sie wissen, dass Sie Ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Ihnen anvertrauten Häftlingen verletzt haben. Sie wissen, dass Sie auf Medweds Forderung in keiner Weise hätten eingehen dürfen.“
Die Anstaltsleiterin biss sich auf die Lippen.
„Hat er sie bedroht?“, fragte Hennings.
Brettschneider hatte den Kopf gesenkt. Dann gab sie sich einen Ruck. „Er sagte, er würde mich auffliegen lassen.“
„Woher wusste Medwed überhaupt, dass Sie die JVA leiten?“
„Das weiß ich nicht.“
„Sie wären unter Umständen bereit, als Zeugin gegen Medwed auszusagen?“
„Was bleibt mir denn anderes übrig?“