Читать книгу Lilli - Erwin Sittig - Страница 10
ОглавлениеMartha 1960
Sie hatte lange nicht mehr so ein Kribbeln im Bauch verspürt. Ihre neue Freundin brachte all das mit, wovon sie, schon seit Ewigkeiten, geträumt hatte: Witz, Charme, Eleganz, Frische, Leichtigkeit, Intelligenz und ein blendendes Aussehen. Ihre Verliebtheit ließ sie kaum schlafen, sobald ihre Süße, so nannte sie sie immer, nicht bei ihr war. Sie liebte vor allem die Einfühlsamkeit, das blinde, wortlose Verstehen, diese Weichheit des Körpers mit den vielen betörenden Rundungen und den unbeschreiblichen Duft, der sie verrückt machte.
All das hatte ihr nie ein Mann gegeben. Es belastete sie, dass sie ihre Liebe nicht in die Öffentlichkeit tragen durften. Die gesellschaftlichen Bedingungen und vor allem die Moralvorstellungen der Mitbürger, waren besonders in kleineren Orten, extrem feindlich gegen alles, was nicht der Norm entsprach. Sie hatten beide Angst geächtet zu werden und träumten davon, auch außerhalb ihrer Wohnung, ein akzeptables Leben zu führen.
Sie zahlten einen hohen Preis, indem sie sich diesem psychischen Druck aussetzten. Sie lebten in ständiger Angst, entlarvt zu werden. Zum Glück sahen sie es beide so und keine wollte den rebellischen Weg einschlagen und der ganzen Welt die Stirn bieten. Zwar waren seit dem Jahr 1957 in der DDR lesbische Handlungen nur strafbar, wenn man jünger als 21 war, doch die Menschen unterschieden da nicht. Im Nachbarland, der BRD, blieb es weiterhin eine Straftat, so dass sie zumindest glücklich waren, aus dieser Richtung nichts mehr zu befürchten. Dennoch wären die psychischen Strafen, wenn sie sich outeten, wie ein ständiger Dolch in ihrem Rücken, der zwar schon drin steckte, an dem sich aber jederzeit jemand betätigen kann, um das Leid zu vervielfachen.
'Lieber ein kleines Glück, als keines', sagten sie sich immer und hatten sich damit arrangiert.
Für die anderen waren sie Cousinen, die in einer Wohngemeinschaft lebten, um die Kosten zu teilen. Um ein Alibi zu haben, trafen sie sich gelegentlich mit Männern, gingen jedoch nie über das Austauschen von Küssen hinaus.
Martha hörte, wie sich ihre Süße hinter der Badezimmertür auf die Nacht vorbereitete. Sie freute sich schon auf das allabendliche Kuscheln, um den Tag ausklingen zu lassen.
Lächelnd kam ihre Geliebte auf sie zu und vollführte einen kleinen Endspurt, um zu ihr ins Bett zu springen. Sie drängten sich sehnsüchtig aneinander, um mit der Wärme ihrer Körper die Kälte des Tages zu verbannen.
Während sie sich liebkosten, erzählten sie von den Ereignissen des vergangenen Tages, um immer im Bilde zu sein, wie es der anderen erging.
Eine Kollegin von Martha hatte von einem Mädchen berichtet, die ihr Kind weggab, da sie sich nicht in der Lage fühlte, die Mutterrolle auszufüllen. Die Behörden sahen es ähnlich und hatten zugestimmt. Marthas beiläufige Bemerkung „ ich könnte das nicht“ brachte ihre Süße auf die Palme.
„Was weißt du denn schon. Meinst du wirklich, du könntest dir eine Meinung darüber erlauben? Weißt du, wie es ihr geht, in welchem Umfeld sie lebt, wer ihr zusetzt?“
„Ich könnte das nicht“, setzte sie nach, indem sie Martha nachäffte.
„Meinst Du, ihr ist das leicht gefallen?“
Plötzlich brach sie in Tränen aus, versenkte den Kopf in ihren Armen und ließ das Weinen in ein kräftiges Schluchzen und Winseln übergehen.
Martha war bestürzt, was so ein beiläufig gesprochener Satz für Auswirkungen hatte.
Sie nahm ihre Süße in den Arm, streichelte sie und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht.
„Erzähle. Was steckt dahinter. Hat Dich Deine Mutter auch weggegeben?“
Eine lange Pause entstand. Martha gab ihr Zeit. Da saß etwas so tief, dass es sich qualvoll hervorbrach. Endlich erzählte sie ihre Geschichte. Martha staunte mit jedem Wort mehr, dass sie nie darüber gesprochen hatte und trotzdem mit dieser scheinbaren Unbeschwertheit das Leben meisterte.
„Ich war auch schon mal schwanger. Lange habe ich überlegt, ob ich abtreiben soll, doch ich konnte es nicht. Aber ich konnte ebenso wenig eine Mutter für das Kind sein. Mit aller Macht hatte ich für mich entdeckt, dass ich Frauen liebe. Immer würde mich das Kind an den Jungen erinnern, dem ich keine Frau sein wollte. Mich in ein Leben zu quetschen, mit so genannter heiler Familie, einem Mann, den ich nur mag, aber nicht liebe und einer Mutterrolle, die mir ein Leben verbaut, wie es meiner Natur entspricht, das war mir nicht möglich. Und was wäre, wenn ich als Lesbe entlarvt werde, ins Gefängnis komme und mein Kind ertragen muss, dass es eine Mutter hat, für die es sich schämen muss?“
Beim Erzählen war der Tränenfluss langsam versiegt. Nur gelegentliches Schluchzen erinnerte an ihren Gefühlsausbruch. Die mitfühlenden Streicheleinheiten von Martha hatten sie wieder beruhigt.
„Ich muss oft daran denken, wenn ich allein bin. Dafür schäme ich mich und würde es doch wieder tun.“
„Hast Du versucht, herauszubekommen, was aus Deinem Kind geworden ist?“
„Natürlich. Doch es war nicht so einfach. Die Adoptiveltern stellt man unter Schutz. Niemand wollte mir Auskunft geben. Ich musste mich wieder erniedrigen. Um die Auskunft zu bekommen, habe ich mit einem jungen Behördenmitarbeiter geschlafen. Auch dafür schäme ich mich. Ein Grund mehr, warum ich mit Männern nichts mehr zu tun haben will. Ihr kleines Gehirn scheint in den Genitalien zu stecken. Jedenfalls habe ich die Adresse bekommen. Ich habe sie aufgehoben.“
„Hast Du Kontakt aufgenommen?“
„Nein. Wie hätte ich erklären sollen, woher ich es weiß? Vermutlich wäre ein riesiger Ermittlungsapparat in Gang gesetzt worden. Ich wollte nur wissen, ob es liebevolle Eltern sind und das waren sie. Sie waren richtig vernarrt in mein Kind.“
Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis sie müde wurden und schliefen in dem Bewusstsein ein, sich mal wieder näher gekommen zu sein.