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ОглавлениеSabine und Lilli 2013
Lilli kam eines Tages aus dem Kindergarten und war sehr still, wirkte sogar etwas traurig.
„Was ist los mit dir, mein Liebling? Ist was passiert?“
Sie sah Sabine mit einem demonstrativ aufgesetzten Schmollmund an und fragte:
„Fast alle Kinder in meiner Gruppe haben einen Vati. Warum habe ich keinen abbekommen?“
„Du hättest gern einen Papa? Bist du mit mir nicht glücklich?“
„Aber wenn die anderen Kinder von ihren Vatis erzählen, vermisse ich ihn schon.“
„Man kann nur vermissen, was man kennt, Lilli. Wenn du dir einen Vater wünscht, weißt du nie, wie er sein wird. Manche Väter sind nicht lieb zu ihren Kindern, manche sind nicht zuverlässig und bringen dadurch Gefahren für dich. Wenn ich gedacht hätte, dass dein Vater gut für dich ist, hätte ich ihn behalten. Du hast einen echten Vater. Jedes Kind hat einen Vater, selbst wenn er nicht da ist.“
„Kann ich ihn kennenlernen?“
„Nein, das geht nicht. Ich bin von ihm weggegangen, bevor du geboren wurdest. Er taugte nichts. Ich weiß auch gar nicht, wo er heute lebt.“
„Aber du warst mal verliebt in ihn?“
„Natürlich. Aber wir waren jung, hatten keine Erfahrung und man hofft mit der Zeit, dass sich ein Mensch ändert. Doch er hat sich zum Schlechten geändert. Ich bin weggegangen, damit du ein schöneres Leben hast.“
„Und warum habe ich keine Großeltern? Waren die auch nicht gut für mich?“
Wahrscheinlich wird jedes Kind irgendwann instinktiv nach seinen Wurzeln suchen. Sie hatte auch darunter gelitten, ihre Großeltern nicht zu kennen und ihre Mutter dazu befragt. Doch leider war die zu verschlossen, um ihr eine befriedigende Antwort zu geben. Ist es möglich, dass man nichts von seinen Eltern weiß, wenn man weggegeben wurde? Tötet die Enttäuschung darüber den Wunsch, seine Wurzeln kennenzulernen?
Es war zu verrückt, dass sie das gleiche Schicksal teilte, wie es ihre Mutter erlebt hatte. Dabei hörte sie es heute noch, als wäre es gestern gewesen:
„Nein, mein Kind. Das würde ich dir nie antun.“ Wie sagt man dies aber einem Kind, damit es das versteht, ohne den Menschen zu verurteilen?
„Weißt du, Deine Großmutter hatte es sehr schwer gehabt. Sie kannte ihre Mutter nicht und hat auch nie geheiratet. Also hast du keinen Großvater. Besser gesagt, wir wissen nicht, wer es ist. Deine Großmutter ist in ein anderes Land gegangen. Sie konnte nicht anders. Ich habe nie wieder was von ihr gehört. Zu gern hätte ich sie dir vorgestellt. Aber wir schaffen das schon allein, oder?“
Sie nahm ihre Tochter in den Arm und küsste sie auf die Stirn. „Ich hab dich lieb.“
Nach ein paar Minuten Umarmung und Streicheleinheiten bat sie Lilli, jetzt spielen zu gehen und wendete sich ab, damit sie ihre Tränen nicht sieht. Sie war froh, dass sich Lilli mit diesen spärlichen Auskünften zufriedengab. Doch das Gespräch hatte alles wieder hochgewühlt. Sie litt noch heute unsagbar unter dem Verlust ihrer Mutter, konnte nicht verstehen, warum sie verlassen wurde. Sicher war sie dazu gezwungen und musste Sabine zurücklassen. Das hatte sie sich immer wieder eingeredet. Sie wollte sich den Glauben bewahren, dass ihre Mutter sie geliebt hatte und weiterhin liebt. Sie betäubte ihren Schmerz, indem sie beschloss, ihrer Mutter zu verzeihen.
Ihr war bekannt, dass ihre Mutter im Heim gewesen ist, aber Sabine war selbst ein Heimkind und hatte trotzdem später zu ihrer Tochter gestanden. Zwischen der Heimzeit der Mutter und ihrer eigenen lagen ca. 25 Jahre.
Sie hatte erfahren, dass die Heime damals viel schlimmer waren. Was hat diese Zeit in ihr angerichtet?
Nein, ihre Mutter hatte keine Schuld. Es gab eine ihr unbekannte, plausible Erklärung.