Читать книгу Lilli - Erwin Sittig - Страница 7
ОглавлениеJosef 1955
Ein wunderschöner Sommertag mit einem angenehmen Mix aus Sonne, traumhaften Wolkenformationen und frischem, unaufdringlichem Wind zog über den Weststrand auf dem Fischland Darß-Zingst. Der wilde Strand mit seinen einzeln stehenden Bäumen, deren Wipfel sich vom Sturm abwenden, mit dem feinen, hellen Sand und dem breit gefächerten Strandgut hatte es Josef angetan. So wie ihn zog er das ganze Jahr über immer wieder Menschen an, die die Naturbelassenheit zu schätzen wissen, ja geradezu süchtig nach ihr sind.
Die ausgebleichten Hölzer angeschwemmter Baumteile, die durch ihren langen Aufenthalt im Wasser und die Arbeit von Salz, Sonne und Wind ihren unnachahmlichen Charakter aufgedrückt bekamen, verleiteten viele Strandbesucher zum Burgenbau. Kleine, runde, durchlässige Mauern aus Holz entstanden, die ein privates Reich absteckten, bei Bedarf vor neugierigen Blicken schützten und nebenbei Angriffe des Windes etwas milderten, wenn dieser zu aufdringlich wurde.
Eine dieser Burgen beanspruchte Josef für sich. Jedes Jahr hatte er Stück um Stück daran weiter gebaut. Er genoss das Flair des FKK-Strandes, der Menschen jeglicher Couleur vereinte. Scham, Voyeurismus und Imponiergehabe waren hier Fremdworte. Nackt zu sein, war ein Bedürfnis, gleichgültig, ob dick, dünn, makellos oder deformiert, all das war nicht von Belang. Im vorigen Jahr hatte die Staatsführung der DDR die FKK-Bewegung verboten, doch das ignorierten sie. Aufgrund der massiven Proteste wird man im kommenden Jahr diese Entscheidung zurücknehmen, was Josef jedoch nicht ahnen konnte.
Seit Kurzem hatte sein geliebter Weststrand eine kaum bezahlbare Aufwertung bekommen. Er hatte seiner großen Liebe Gabi dieses idyllische Fleckchen Erde vorgestellt. Da sie seine Begeisterung teilte, begleitete sie ihn, sobald es Josef hier her zog. Sie hätten gern häufiger den Weststrand besucht, wenn die Zeit es zuließe und der Weg nicht so weit wäre.
Josef hörte das behutsame Flüstern des Seegrases in den Dünen. Schau, wie schön sie ist, wie anmutig sie sich im Wasser bewegt, wie kindlich verspielt sie mit den Wellen tanzt, die mit ihr im Zwiegespräch zu stehen scheinen und sie wiederholt aufbrausend streicheln. Er war nicht fähig, seine Augen von Gabi zu lösen, die vom warmen Licht der Sonne stimmungsvoll angestrahlt wurde. Immer wieder aufs Neue verwunderte es ihn, dass die Natur im Stande war, einen so perfekten Körper hervorzubringen. Ein größeres Wunder war hingegen, dass diese Frau zu ihm gehörte, sich in ihn verliebt hatte. Über ein Jahr waren sie schon ein Paar und seine Liebe hatte kein Deut nachgelassen. Allein der Gedanke an sie ließ sein Herz galoppieren und seine Sinne verrücktspielen.
„Nun komm schon rein oder bist Du aus Zucker?“, hörte er ihre klare, ausgelassene Stimme.
Gabis langes, blondes Haar wehte leicht im Wind und ihre sonnengebräunte Figur hob sich, wie das Meisterwerk eines Künstlers, vom Meer ab. Die brausende Gischt erweckte den Eindruck, als stünde Gabi auf einem in Bewegung befindlichen Sockel.
Er benötigte eine Weile, um aus seinem Traum herauszutreten. Und das Seegras flüsterte: Beeile dich. Sie wartet.
Er lief auf sie zu und rief lachend: „Finde es selbst heraus!“
Gabi floh kreischend ins Meer, doch er holte sie schnell ein und stürzte sich mit ihr in die behutsamen Wellen. Sie balgten sich, wie die kleinen Kinder, bespritzten sich mit Wasser, stuckten sich unter. Josef nahm seine Meernixe auf die Arme und warf sie durch die Luft, was sie mit erneutem Kreischen belohnte.
Des Spielens müde, liefen sie zu ihrer Burg und legten sich keuchend auf ihre Badetücher.
Diese Momente mit seiner Gabi empfand er so unbeschwert, dass ihn alle Sorgen verließen.
Es war kein Platz dafür da. Ihre sanfte Stimme wehte über die vollen Lippen und betörte ihn. Ihre schmeichelnden Blicke umhüllten sein Gesicht und ihre zärtlichen Hände verzauberten seine Haut. Es war wie im Paradies.
Wohltuend erschöpft lagen sie am Strand und ihre Augen streiften über Meer und Leute. Gabis Blick blieb an einer kleinen, schwarzhaarigen Frau hängen, die, wie zur Dekoration, ihren wohl geformten Körper der Sonne darbot. Auf Josef wirkte sie etwas kantig und die kurzen Haare erzeugten einen burschikosen Eindruck.
„Kennst du sie?“, fragte er, da Gabis Blick sich dort verankert zu haben schien.
„Nein. Sie wirkt auf mich nur etwas traurig und einsam. Das fiel mir vorhin schon auf.“
Sie drehte sich wieder zu ihm und legte den Kopf auf seine Brust.
In dieser milden Nacht waren sie am Meer geblieben, hatten sich hinter ihrer kleinen Burg in eine Decke gemummelt und sich, nachdem alle den Strand verlassen hatten, leidenschaftlich geliebt. Josef ahnte nicht, dass dies ihre letzte Begegnung sein würde, sonst hätte er Gabi festgehalten und nie mehr losgelassen.