Читать книгу Lilli - Erwin Sittig - Страница 17
ОглавлениеMartha 2016
Es tat Martha in der Seele weh, dass Sabine und ihre Lilli das große Glück einer liebevollen Familie nicht fanden. Auch für die Kleine wäre es besser, wenn ein Mann da ist, den sie als Ersatzvater akzeptieren könnte.
Da Martha eine lesbische Beziehung führte und die Nichtakzeptanz der Mitbürger sie in eine Art Isolation gezwungen hatte, war an eigene Kinder nicht zu denken. Gern hätte sie zusammen mit ihrer Freundin ein Kind großgezogen und die Liebe mit ihm geteilt. Wie gut hatten es da doch gleichgeschlechtliche Paare von heute. Schon seit der Kindheit litt Martha unter ihrer geschlechtlichen Orientierung.
Der Tag der Erkenntnis schob sich aus ihrem Gedächtnis an die Oberfläche. Es war ein warmer Frühlingstag. Kurz vor ihrem 14. Geburtstag saß sie mit Paul, den sie als verlässlichen Freund bezeichnen würde, auf einer kleinen Anhöhe und beobachteten ihre Schulkameraden, die auf der Wiese, vor ihnen spielten. Einige Mädchen saßen in Gruppen beisammen und die Jungs tobten sich aus. Es war ein lang geplanter Klassenausflug, auf den sie sich schon riesig gefreut hatte. Da das Wetter so hervorragend mitspielte, waren die Kinder in entspannter und freudiger Stimmung. Sie saß gern bei Paul, da sie mit ihm über alles reden konnte.
Er sah unentwegt zu der kleinen Mädchengruppe hinüber die, schick zurechtgemacht, beieinandersaß. Sie erzählten, kicherten und gestikulierten und gelegentlich schauten sie mal zu ihnen herüber. Paul begann zu schwärmen.
„Wie findest du Annemarie? Sie ist viel lustiger als die anderen und sieht toll aus. Könntest du dir die als Freundin vorstellen?“
Was immer er sich unter „Freundin“ vorgestellt hat, bei Martha löste es plötzlich eine Blockade.
Beschwingt verlor sie sich ebenfalls in Schwärmereien. Sie erzählte eifrig drauflos, wobei sie verträumt lächelnd Annemarie betrachtete.
„Annemarie kann ich mir sehr gut als Freundin vorstellen. Sie ist wunderschön. Ich liebe es, wenn der Wind durch ihre Haare fährt und und mit ihnen in ihrem Gesicht spielt. Und wie graziös sie sich in ihrem Kleid bewegt. Wenn sie es zum Schwingen bringt und ihre schönen, langen Beine freigelegt werden, will man gar nicht mehr wegsehen. Hast Du bemerkt, dass sie schon schöne kleine Brüste hat, die sich toll in ihrem Oberteil abzeichnen. Eigentlich stimmt alles an ihr.“
Nachdem sie geendet hatte, lag ihr Blick lange schweigend auf Annemarie. Sie hatte vergessen, dass Paul neben ihr saß. Als ihr die anhaltende Stille etwas komisch vorkam, schaute sie zu Paul hinüber, immer noch mit dem verklärten Lächeln.
Seinen entsetzten Blick empfand sie wie einen Dolchstoß. Ihr wurde bewusst, was passiert war und der Schreck legte sich auf ihr Gesicht, was wiederum wie ein Geständnis wirkte. Er sprach hart aus, was auch sie gerade erkannte.
„Bist du eine Lesbe? Du magst Frauen?“
Martha schoss die Schamröte in den Kopf, was Paul in seinem Verdacht weiter bestärkte.
„Quatsch. Ich.. ich wollte dir nur Mut machen, sie anzusprechen.“
Doch er hatte schon zu einem Kriegstanz angesetzt. Ohrenbetäubend erschallte sein Singsang.
„Martha liebt Annemarie. Martha liebt Annemarie.“ Und immer wieder „Martha liebt Annemarie“, bis er bei den anderen Jungs angekommen war. Vermutlich schmückte er jedes Detail aus und das in einer Lautstärke, dass es auch die Mädchen mitbekamen.
Martha beobachtete, wie Annemarie auf ihre Brüste herabschaute und ihr Blick sich dann ihr zuwendete. Seit dem hatte sie nie wieder mit Paul gesprochen und auch die anderen Mitschüler und Mitschülerinnen mieden sie. Es sah selbst Wochen später nicht so aus, als ob sich je etwas daran ändern würde. Sie begann, sich mit älteren Jungs zu treffen und mit ihnen zu knutschen. Dabei richtete sie es so ein, dass es möglichst viele mitbekamen. Doch weiter trieb sie es selten.
Es dauerte Monate, bis ihre Mitschüler sie wieder in ihre Gespräche einbezogen. Die Mädchen versuchten von ihren Erfahrungen zu profitieren und in den Jungs gelang es ihr erotische Fantasien zu wecken. Sie hatte in dieser Zeit einiges über sexuelle Praktiken gelesen, um ihren Status bei den Mädels zu untermauern. Sie hatte sich immer geekelt, wenn die Kerle ihre Zungenküsse an ihr trainierten und ihre Brüste abtasteten. Die Sehnsucht nach einer liebevollen Frau, die sich auch für sie erwärmt, wuchs unaufhaltsam. Schon damals war ihr bewusst, welche Gefahr ihre Andersartigkeit mit sich brachte und dass ihr ein quälend langer Weg der Einsamkeit und Scham bevorstünde. Sie schämte sich nicht wirklich dafür. Es war für sie etwas Natürliches. Was sollte da falsch sein? Doch die Scham, die sich einstellen würde, wenn man sie entdeckte, hatte sie schon eindrucksvoll erlebt. Sie hinterließ eine Wunde in ihrer Seele, die nicht vernarbte.
Sabine hatte das Glück, dass sie heterosexuell geprägt war und dennoch brachte ihr das andere Geschlecht keine Erfüllung. Martha schloss aus, dass Sabine sich nach Frauen sehnte. Das hätte sie gespürt. Wer sich jahrzehntelang tarnen muss, entwickelt feine Antennen für echte Gefühle.
Sabine hatte eher das Problem, die falschen Männer kennengelernt zu haben. Das Schicksal hatte sie vermutlich in ihrem Männerbild fehlerhaft programmiert. Die ihr guttäten waren nicht begehrenswert und die sie begehrte waren oberflächlich und unzuverlässig. Vermutlich ein Teufelskreis, der in ihrer Kindheit verwurzelt war.
Was die verkrachte Existenz von Josef betraf, so lag es für sie eindeutig daran, dass er sich täglich in seinem Selbstmitleid ertränkte. Es war eine Art Sucht. Das weckte in ihm die Unzufriedenheit und damit wurde er unausstehlich. Dass solche Menschen bei anderen kaum Akzeptanz finden, könnte Josef vielleicht nachvollziehen, doch würde er sich selbst nie als einen dieser Menschen sehen. Er verdrehte Ursache und Wirkung, um nicht mehr darüber nachdenken zu müssen.
Martha hatte ihr Glück spät gefunden und wieder verloren. Und jetzt versuchte sie bei anderen das Gespür für Familie zu fördern. Vor allem lag ihr aber Sabine und ihre Tochter Lilli am Herzen, die deutlich mehr verdient haben.