Читать книгу Lilli - Erwin Sittig - Страница 8
ОглавлениеMartha 2016
Heute war ihr Glückstag. Die junge Frau Sabine mit Ihrer Tochter Lilli hatten nach wochenlanger Überlegung zugesagt, Marthas kleines Häuschen zu mieten. Morgen werden sie dort einziehen. Sie hatten ihre alte Wohnung endlich aufgegeben, alle Möbel verkauft und Marthas Angebot angenommen. Sie waren letztendlich ihrer Überredungskunst erlegen, zumal sie sehr überzeugend sein konnte. Das Glück stand ihr bei, indem Mutter und Tochter momentan nicht so glücklich mit ihrem gegenwärtigen Leben waren.
Martha wusste sofort, dass die beiden die Richtigen sind. Sie hatte monatelang nach ihnen gesucht. Sabine hatte schon länger über einen kompletten Neuanfang nachgedacht. Für ihre Tochter Lilli empfand sie den besonders wichtig.
Martha brauchte das Haus nicht. Sie nutzte es ohnehin kaum, da sie sich vor ein paar Jahren die Eigentumswohnung in der Stadt gekauft hatte.
Sie war schon über 80, was man ihr nicht ansah. Das Tönen der mittellangen, naturgelockten Haare fiel ihr immer schwerer. Wäre es nicht besser, endlich ihr Grau herauswachsenzulassen? Einfach gesagt, wenn die Eitelkeit lautstark dagegen rebelliert. Einmal hatte sie es ausprobiert, doch auf halbem Wege schlappgemacht, da sie sich als so alte Frau im Spiegel nicht ertragen konnte. Martha legte gesteigerten Wert auf ihr Äußeres. Stets hatten die Kleidung mit Schmuck und Accessoires perfekt abgestimmt zu sein. Fürs Schminken plante sie ausreichend Zeit ein, sobald abzusehen war, dass sie das Haus verlassen wird. Selbst das fiel ihr immer schwerer.
In die beiden, Mutter und Tochter, hatte sie sich sofort verliebt. Sie strahlten eine ansteckende Herzlichkeit aus. Immer wenn sie sich begegneten, fühlte sie sich verjüngt und ihre Zipperlein gaben etwas Ruhe. Besser gesagt, sie wurden ihr nicht mehr bewusst, da sie voll in der Begegnung mit den beiden aufging und kein Gedanke für ihre Gebrechen übrig blieb.
Gleich in der Früh beabsichtigten sie, sich zu treffen. Das Haus hatte sie ihnen nur einmal gezeigt. Einen ganzen Nachmittag lang schauten sie in jeden Winkel des Gebäudes und nebenbei kurz in den Garten, der durch sein liederliches Aussehen lautstark die mangelnde Pflege beklagte.
Beschämt hatte sich Martha entschuldigt, dass ihr Zeit und Kraft fehlten, um ihm zu geben, was ihm zustand.
Sabine hatte sich nach dem alten Herrn erkundigt, der emsig in seinen Beeten wirtschaftete. Er wird ihr neuer Nachbar werden. Während ihres Besuches hatte er sie keines Blickes gewürdigt und arbeitete in seinem Garten, meist mit dem Rücken zu ihnen, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden.
Martha beruhigte sie. Der Mann heißt Josef Gramlow und ist ein halber Einsiedler, der zu niemandem im Ort Kontakt hat und es auch nicht wünscht. Ihr werdet ihn gar nicht spüren. Er redet nicht und macht keinen Lärm. Am besten ihr lasst ihn links liegen. Er reagiert immer mürrisch, wenn man ihn anspricht.
„Ich werde euch hin und wieder besuchen kommen, bis ihr euch eingelebt habt. Und wenn ihr Unterstützung braucht, könnt ihr mich jederzeit anrufen“, versprach Martha.
Sie hoffte sogar, dass sie öfter ihre Hilfe in Anspruch nehmen werden, denn sie fühlte sich etwas einsam und hasste es, nur mit Leuten ihres Alters ihre Zeit zu verbringen. In der Stadt gab es genug Kontaktmöglichkeiten, doch sie zog die Gesellschaft der Jugend vor, da sie dadurch frischer blieb, der Lebenssaft spürbarer durch ihre Adern floss. Aber sie blühte auch auf, wenn ihre Erfahrungen geschätzt wurden, die sie gern teilte.
So ein Leben, wie es Josef Gramlow führte, wäre für sie ein schleichender Selbstmord.