Читать книгу Lilli - Erwin Sittig - Страница 18
ОглавлениеSabine 1982
Sabine lag allein in ihrem Bett und lauschte auf die Geräusche, die aus Muttis Schlafzimmer kamen. Sie war zwar erst 7 Jahre alt, doch sie wusste sehr genau, was in dem Zimmer passierte, wenn Mutter nachts einen Mann mit nach Hause brachte. Lange waren ihr die Laute ein Rätsel, doch einige Mädchen in ihrem Freundeskreis kannten sich aus und gaben ihre Erfahrungen gern weiter. Offenbar gab es Eltern, die vor ihren Sprösslingen nichts verheimlichten. Sabine war ihrer Mutter dankbar, dass sie diese fremden Männer nie mit an den Frühstückstisch einlud. Alle hatten zu verschwinden, bevor ihr Kind aufsteht. Eine Begegnung ließ sich allerdings nicht immer vermeiden. Seit sie ihre Mutter einmal bei ihren Liebesspielen überrascht hatte, wartete sie im Bett, bis die Tür ins Schloss fiel.
Ihre Mutter, Jutta, sagte immer, sie bräuchte keinen Mann im Haus, der ihr Leben durcheinanderbringt und ihr den Nerv tötet. Sie entscheidet selbst, wo es lang geht.
Jetzt, wo der Kerl weg war, und Mutter sich erfrischt hatte, kroch sie gerne zu ihr in die Federn, um sich anzukuscheln, Streicheleinheiten abzuholen und zu erzählen. Ihre Mutter stellte sich darauf ein, hatte Slip und BH angezogen und wartete im Bett auf Sabine. Sie fand ihre Mutter schön. Ein großer Teil ihres Körpers war mit Tätowierungen geschmückt. Auf der gebräunten Haut kamen sie gut zur Geltung. Von der knallroten Bettwäsche hob sie sich wie ein Kunstwerk ab. Selbst im Winter erhielt sich Jutta die Bräune, indem sie gelegentliche Solariumbesuche zur Pflichtveranstaltung erhob. Sabines Wunsch, ebenfalls unter der künstlichen Sonne zu liegen, wurde kategorisch abgelehnt.
Sanft strich Sabine über die tätowierte Schlange, die von der Brust zum Hals führte. Ihr Maul war angriffslustig aufgerissen. ‚Die Giftschlange beschützt mich‘, hatte Jutta ihrer Tochter erklärt. So sieht jeder, dass er sich vorsehen muss, wenn er mir zu nahe kommt. Das beeindruckte Sabine. Bei einer so starken Mutter wird auch ihr nichts geschehen. Das Schlafzimmer der Mutter wirkte ähnlich bedrohlich. Alles in Schwarz und Rot gehalten, sorgte dezente, indirekte Beleuchtung für eine düstere Stimmung. Ein chinesischer Drache war an die Wand überm Bett gemalt und hielt die Besucher in Schach.
Sabine hatte die tiefschwarzen Haare der Mutter geerbt. Die hingen bei ihr meist glatt herunterhängen und sie benutzte keine Haarspangen. Gelegentlich band sie sich, mit einem Gummi, einen Pferdeschwanz. Doch bei Lilli blieben die Haare halblang und mit Spangen gestalteten sie hin und wieder diverse Frisuren.
Heute versprühte ihre Mutter besonders gute Laune. Bestimmt war die Gelegenheit günstig, einen neuen Vorstoß mit Ihrer alten Frage zu wagen. Immer wenn sie zu ihrer Oma etwas zu erkunden versuchte, gab es die Antwort: 'Ich habe keine Mutter'.
Vielleicht kann sie ihr heute was entlocken.
„War deine Mutter auch tätowiert?“
Sofort verfinsterte sich das Gesicht der Mutter.
„Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ich keine Mutter habe.“
„Jeder Mensch hat eine Mutter“, beharrte Sabine.
Jutta beruhigte sich. Sie atmete tief durch und sah ein, dass sie ihrer Tochter nicht immer ausweichen konnte. Ihre Augen fixierten einen Punkt in der Ferne. Wie unter Hypnose blieb sie daran hängen, während sie weiter erzählte. Sabine spürte, wie der Griff ihrer Mutter auf ihrer Schulter kräftiger wurde.
„Meine Mutter wollte mich nicht. Sie hat mich weggegeben. Sie hat mir nicht mal einen Brief hinterlassen.“
„Und dann bist du ins Heim gekommen?“
„Nicht gleich. Fast 7 Jahre habe ich bei Pflegeeltern gelebt. Ich hatte sie wirklich gern. Aber auch sie haben mich verraten und mich weggegeben.“ Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie unternahm keinen Versuch, sie wegzuwischen.
„Die haben wenigstens einen Brief hinterlassen, den ich viel später bekam. Sie könnten es mir nicht erklären, aber es sei das Beste für mich, wenn ich wo anders aufwüchse. Und dann haben sie mich in dieses Scheiß Heim abgeschoben. Ich habe mich die ganzen Jahre gefragt, ob diese bescheuerten Scheiß Pflegeeltern sich wirklich eingebildet haben, dass ich es dort besser habe.
Du glaubst gar nicht, wie ich sie hasse.“
Dabei verkrallte sich ihre Finger so kräftig in Sabines Schulter, dass die aufschrie.
„Entschuldige mein Kind. Es war grad alles wieder da. Ich wollte dir nicht wehtun.“
„War es schlimm in dem Heim?“
„Es war die Hölle. Aber Schluss jetzt. Ich werde nicht darüber reden!“
„Würdest du mich auch ins Heim geben?“, fragte Sabine ängstlich.
Liebevoll ruhte ihr Blick eine Weile auf ihrer Tochter, bevor sie antwortete.
„Nein. Niemals mein Kind. Das würde ich dir nicht antun.“
Dabei schoss ihr durch den Kopf, dass ein Kind nie auf ihrem Plan stand. Sabine war für sie wie ein Klotz am Bein.
Man hatte ihr die Jugend gestohlen und sie hoffte, wenigstens jetzt selbst zu entscheiden, wie ihre Zukunft abläuft. Sie ist kein Mutter-Typ. War es die Achtung vor dem Leben, warum sie damals nicht abtreiben ließ? Sie wusste es nicht. Aber da sie das Kind nun mal hatte, lag bei ihr eine gewisse Verantwortung. Sabine sollte sie nicht verachten. Sie würde es nicht verkraften, bei all dem Hass, den sie selbst schon angesammelt hatte.