Читать книгу Lilli - Erwin Sittig - Страница 21
ОглавлениеLilli 2016
Warum soll sie Martha anrufen? Lilli dachte nach und kam zu dem Ergebnis, dass vielleicht doch Einiges an den Gerüchten dran ist. Gewöhnlich sagt Mami etwas und dann ist es so. Da gab es nicht die geringsten Zweifel. Sie entschloss sich, Martha sofort zu kontaktieren? Alles andere macht keinen Sinn, wenn nur die sich auskennt. Sie wusste, wo der Zettel mit den wichtigsten Rufnummern lag. Sabine legte wert darauf, dass sie sich im Notfall selbst helfen kann.
Es war eine Handynummer und Martha nahm sofort ab.
„Hallo Tante Martha. Ich hab mal eine Frage. Mama sagt, dass ich dich fragen soll. Du weißt das ganz genau.“
„Dann leg mal los mein Schätzchen. Ich hoffe, ich kann dir helfen.“
„Die Kinder im Dorf haben erzählt, dass Opa Josef seine Frau umgebracht hat und auch ein Perverser ist. Die haben das von ihren Eltern gehört und verbieten ihnen, auf unseren Hügel zu gehen. Mami denkt, dass das nicht stimmt und nur Gerüchte sind. Aber sicherheitshalber soll ich dich fragen.“
Martha war bestürzt, wie schnell das Gerücht bei der Kleinen gelandet ist. Es war schlimmer, als sie vermutete. Es war kaum abschätzbar, was Josef in den letzten Jahren durchgemacht und weiterhin auszuhalten hat. Die Gerüchte waren ihr bekannt. Sie hatte damals das Haus erst gekauft, nachdem die von keiner Seite bestätigt worden waren. Man fand angeblich weder eine Leiche, noch wurden Josef Übergriffe auf Kinder nachgewiesen. Es gab mal eine Anzeige eines besorgten Elternteils, weil er etwas eigenartig reagierte, als die Kinder ihn provoziert hatten. Doch man fand keinerlei Beweise für diese Vorwürfe. Aber so ist das eben. Martha kannte es ja aus ihrer Jugendzeit, dass einmal in die Welt gesetzte Behauptungen immer irgendwo hängenbleiben.
„Ihr braucht keine Angst haben“, sagte Martha mit voller Überzeugung. „Das sind alles nur Gerüchte, die sich schon lange halten. Der Josef hat, als er hergezogen war, den Leuten bei jeder Gelegenheit vorgejammert, dass seine Frau verschwunden war und er, trotz Nachforschungen, keine Spur von ihr gefunden hat. Man erzählt auch, dass ihm ein Mann bei einem Gaststättenbesuch im Spaß vorwarf, dass er seine Frau vielleicht selbst beseitigt habe. Er hätte auch schon drüber nachgedacht, wenn ihm seine Frau auf den Keks ging. Ob er ihm nicht einen Tipp geben könne, wie man sowas vertuscht. Der Josef hat zwar gesehen, dass der Mann dabei gelacht hat, doch das hatte es für ihn noch schlimmer gemacht. Er ist abrupt aufgestanden und wortlos gegangen. Einige taten so, als wenn das ein halbes Geständnis war. Die Geschichte hat mir der Wirt erzählt. Seit dem Vorfall ist Josef nie mehr in die Gaststätte gegangen und fing auch an, das Dorf zu meiden, soweit er konnte. Und weil er danach so mürrisch und empfindlich wurde, ärgerten ihn die Kinder umso mehr, natürlich immer aus der Ferne. Und da ist Josef gelegentlich ausgerastet. Wer weiß, was die Kinder dann erzählt haben, um sich wichtig zu machen – jedenfalls pervers ist er auch nicht.“
Lilli liebte Geschichten. Dadurch wurde Josef noch interessanter für sie. In ihrem kurzen Leben hatte sie schon viel erlebt und Sabine hatte sie ausdrücklich angehalten, genau zu beobachten, ob ihr Eindruck von einer Situation den Tatsachen entspricht. Erst prüfen, dann handeln. Sie verstand sich mit ihrer Mutter bestens. Außerdem nahm sich Sabine stets genügend Zeit, um mit ihr Probleme zu lösen, so dass sie nichts mit Gewalt durchsetzte. Weil Lilli dadurch gelernt hatte, Argumente einzusehen, rief sie sich die vielen, weisen Ratschläge ihrer Mutter immer aufs Neue in Erinnerung. Damit hatte sie beste Erfahrungen gemacht. Selbst so ein kurzes Kinderleben war gespickt mit schwierigen Situationen und an eine musste Lilli denken.
Es passte zu dem, was Josef durchlebt haben wird.
Es war im Kindergarten. Lilli hatte üble Laune, was selten vor kam. Ein Mädchen aus ihrer Gruppe, jünger als sie, war beim Spielen gegen ihr Haus gekommen, das sie sich mühselig aus Bausteinen aufgebaut hatte. Sie wusste nicht, ob es Absicht, oder eine Unaufmerksamkeit war. Doch diesmal zählte Lilli nicht bis 10, bevor sie reagierte. Sie schrie ihre Wut mit voller Kraft heraus, während sie sich aufstellte und auf das zierliche Mädchen herabsah.
„Du blöde Kuh! Kannst du nicht aufpassen? Das hast du mit Absicht gemacht. Ich hasse dich! Verschwinde hier und geh` in deine Ecke spielen.“
Die Kleine sank in sich zusammen und verzog sich in die äußerste Ecke des Raums. Sofort kam die Erzieherin zu ihr.
„Was ist denn los mit dir, Lilli. So kenne ich dich ja gar nicht!“
„Viola hat mein Haus kaputtgemacht, mit voller Absicht!“
„Bist du dir ganz sicher, dass es nicht aus Versehen geschehen ist?“
Lilli senkte beschämt den Kopf. Leise sagte sie: „Ich habe nicht bis 10 gezählt.“
„Siehst du“, sagte die Erzieherin, die von Lillis Vorsätzen die meisten kannte.
„Dann willst du dich doch bestimmte entschuldigen, oder?“
Lilli hatte nur kurz genickt und dachte dann erst darüber nach.
Dass Viola, wie andere auch, sehr strenge Eltern hatte, die sogar oft vergaßen, die Brottasche fürs Frühstück zu packen, hatten die Kinder schon bemerkt. Selbst wenn Viola ihr Haus mit Absicht zerstört hätte, wusste Lilli noch lange nicht, warum sie es getan hatte. Wer weiß, was vor ihrem Eintreffen im Kindergarten geschehen war. Obwohl Lilli immer viel Liebe von ihrer Mutter bekommt, war sie heute schlecht gelaunt. Wie wird sich da erst Viola fühlen, die zu Hause nicht glücklich ist und jetzt auch hier Ablehnung erfuhr? Lilli ging zu ihr. Sie sah ängstlich zu ihr auf. Lilli entschuldigte sich.
„Hättest du Lust, das Haus mit mir zusammen wieder aufzubauen? Können wir auch so bauen, wie du es willst.“
Viola strahlte sie plötzlich an, wischte die letzten Tränen aus dem Gesicht und nickte heftig.
Sie hatten eine Menge Spaß, als sie gemeinsam das Haus planten und auch bauten. Lillis miese Laune war wie weggeblasen.
„Lilli, bist du noch dran?“, hörte sie Martha, der die lange Pause am Telefon komisch vor kam.
„Ja, ja. Danke. Ich leg dann jetzt auf“, was sie unverzüglich ausführte, ohne zu warten, ob Martha mit ihrem Gespräch ebenfalls fertig war.
Sie dachte nochmals an die Kindergartengeschichte zurück. Eigentlich war das genau wie bei Josef. Der hat ebenfalls niemanden, der ihn lieb hat. Da ist es doch normal, wenn man immer schlechte Laune hat und anders ist, oder pervers, wie die Erwachsenen sagen.
Am besten, sie flitzt gleich mal rüber, damit es Opa Josef etwas besser geht.