Читать книгу Lilli - Erwin Sittig - Страница 19
ОглавлениеLilli 2016
Lilli entschloss sich, zum baden an den See zu fahren. Ihre Mutter war noch mit dem Einrichten des Hauses beschäftigt.
Die alten Möbel von Martha hätten vermutlich einen würdigen Platz in einem Antiquariat gefunden. Sabine liebte es, uralte Gegenstände um sich herum zu haben. Die tragen so viel Leben in sich, das jedes Teil eine eigene Geschichte von früher erzählen könnte. Es ist schon kurios, hatte ihre Mutter gesagt, dass wir diese Sachen jetzt mit neuem Leben füllen - mit unserem.
Die Einrichtung der Räume wünschte Sabine, ohne Lillis Hilfe durchzuziehen. Zu gern wäre Lilli zusammen mit Mutti zum See gefahren, sah aber ein, dass das momentan nicht möglich war.
Vielleicht hatte sie Glück, am Strand andere Kinder zu treffen.
Sie schwang sich auf den Sattel, klingelte kurz und winkte Josef zu, der wieder mal im Garten herumwirtschaftete. Leider sah sie nicht, wie er den Brennnesselsud der aufgekochten Pflanzen über seine Rosen goss.
Josef erweckte bewusst den Eindruck, als hätte er sie nicht bemerkt.
Der kleine See hatte eine gepflegte Liegewiese, die direkt bis ans Wasser reichte. Es waren einige Leute da, die auf ihren mitgebrachten Decken lagen, neben denen gut gefüllte Picknick-Körbe standen. Lilli hatte keine Unterlage mitgenommen. Nach einem kurzen Bad beabsichtigte sie, sofort wieder zurückzufahren. Im flachen Uferbereich tobten zwei kleinere Mädchen und ein Junge ihres Alters bespritzte sie ausgiebig. Als sie ins Wasser rannte und Hallo sagte, hielten sie inne und sahen ihr nach. Lilli schwamm eine Runde in dem klaren Nass und lief dann zum Fahrrad, um sich abzutrocknen. Es war ein frischer, kühler Wind, der sie leicht frösteln ließ. Nachdem sie sich trocken gerubbelt und unter dem Bademantel den Badeanzug gewechselt hatte, war ihr schnell wieder warm. Die Kinder kamen auf sie zu.
„Bist du hier zu Besuch?“, fragte der Junge.
„Nein, ich wohne hier.“
„Wo denn?“
„Oben, auf dem kleinen Hügel. Das letzte Haus auf der linken Seite.“
„Waaas?“, staunte eines der Mädchen. „Und da hast du gar keine Angst?“
„Warum sollte ich Angst haben. Es ist schön dort.“
„Da wohnt doch dieser verrückte, böse, alte Mann“, sagte das zweite Mädchen.
„Der ist doch nicht verrückt – und böse schon gar nicht“, antwortete Lilli energisch.
„Hat euch das keiner erzählt? Der hat seine Frau umgebracht und wer weiß wen noch.“
Lilli sah förmlich die Angst in ihren Augen.
„Und Kinder hasst er besonders“, ergänzte der Junge. „Unsere Eltern sagen, dass wir dort nie allein hingehen dürfen. Das ist bestimmt ein Perverser.“
„Du weißt doch überhaupt nicht, was ein Perverser ist“, entgegnete Lilli und sah ihn tadelnd an.
„Klar weiß ich das.“
„Dann sag doch.“
„Ha, ha, die weiß nicht, was ein Perverser ist“, äffte der Junge etwas unsicher.
„Ich weiß es ganz genau. Aber du nicht. Sonst würdest du es ja sagen. Du plapperst doch nur nach, was irgend ein Idiot gelabert hat.“
„Das hat mein Vater gesagt“, empörte er sich.
„Na toll. Und der weiß es wahrscheinlich genauso wenig, wie du.“
„Hast du gesagt, mein Vater ist ein Idiot?“
„Nein. Er hat dir doch sicher erklärt, was ein Perverser ist. Du kannst dir nur nichts merken, du armer Kerl.“
Damit schwang sie sich aufs Rad und fuhr wieder los, drehte sich nochmal um und rief: „Und lass dir auch gleich erklären, was ein Idiot ist. Du wirst es brauchen.“
„Hau bloß ab und geh zu Deinem Perversen!“
„Mach ich. Soll ich ihn von dir grüßen? Wie war doch gleich dein Name? Hab ich das richtig aufgeschnappt – Dennis? Nicht das ich ihm was Falsches sage.“
Lilli sah aus den Augenwinkeln, wie sich der Junge irritiert abwandte und mit den Mädchen tuschelte, die sichtlich aufgeregt waren.
Auf der Fahrt zurück grübelte sie darüber nach, was ein Perverser ist. Sie hatte keine Ahnung. Josef sah ihr gleich an, dass etwas passiert war. Sie stellte hektisch ihr Fahrrad ab und rannte ins Haus.
Sofort bestürmte sie ihre Mutter mit der Frage: „Du, Mutti, was ist ein Perverser?“
Sie räumte gerade eine Schublade ein. Verwundert sah sie Lilli an.
„Hat dich jemand so genannt?“
„Nein. Opa Josef soll ein Perverser sein und seine Frau soll er auch umgebracht haben und vielleicht noch mehr.“
Es war nicht zu übersehen, wie aufgeregt Lilli war.
„Wer hat dir das erzählt?“
„Ein Junge aus dem Dorf.“
„Hüte dich davor, Gerüchte zu verbreiten. So ein Gerücht ist schnell erzählt und kann das Leben eines Menschen kaputtmachen.“
„Und was ist nun ein Perverser?“
„Das ist ein Mensch, der bei seinen Handlungen nicht normal ist. Der macht Sachen, die andere nicht machen würden.“
Den sexuellen Aspekt verschwieg sie ihr lieber. Ihr war nicht ganz wohl dabei. Selbst wenn an einem Gerücht etwas nicht glaubwürdig ist, jagt es doch immer einen kleinen Stachel ins Fleisch. Da es sich hier um die Sicherheit ihrer Tochter handelt, setzte sie aber hinzu: „Das Beste ist, du erzählst Tante Martha, was der Junge gesagt hat, und horchst mal, was sie dazu sagt.“
Wenn mit Josef irgendetwas nicht stimmt, wird Martha es wissen, dachte sie.
„Lilli? Ich muss gleich für 1-2 Stunden in die Stadt. Wäre schön, wenn du in der Zeit im Haus bleiben könntest.“
Sie versprach es.