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Lilli 2016

Es dämmerte bereits. Mutti war immer noch nicht da. Lilli hatte zwar versprochen, im Haus zu bleiben, doch Opa Josef brauchte ihre Hilfe. Sie würde es ähnlich wie im Kindergarten angehen. Als sie an das Grundstück herantrat, saß Josef regungslos auf seiner Holzbank, den Kopf leicht gehoben. Die Lampe am Giebel verstreute ein warmes Licht und tauchte den kleinen Garten in eine anmutige Atmosphäre. „Ich bin wieder dahaa! Darf ich zu dir kommen?“ Ausgerechnet jetzt, wo er die schönste Stunde des Tages genießen will.

„Sei still und verschwinde!“, zischte er geheimnisvoll.

„Ich dachte nur, weil wir uns so schön unterhalten haben, könnten wir das wiederholen.“

„Ich hab jetzt keine Zeit“, flüsterte er wieder.

„Aber du sitzt doch da nur rum.“

Josef merkte, dass er sie so schnell nicht loswerden würde.

„Also gut. Wenn du versprichst, dass du kein einziges Wort sagst, darfst du dich zu mir auf die Bank setzen.“ Blitzschnell flitzte sie zu ihm und setzte sich.

Josef schaute zu ihr runter und hielt den Finger vor den Mund.

„Pssst. Fledermäuse“, sagte er leise.

Lilli nickte und sie folgte seinem Blick.

Dann endlich kamen sie heraus und flogen in Richtung Wald davon.

Sie juchzte kurz vor Freude und Josef ermahnte sie wieder mit dem Zeigefinger. Lilli nickte erneut und schaute breit grinsend weiter zu.

Es wurden langsam weniger und dann waren alle ausgeflogen.

„Heute waren es wieder 129“, erzählte Josef stolz.

„Seit wann hast du die?“

„Die wohnten schon hier, als ich das Haus gekauft habe. Doch mit der Zeit sind es immer mehr geworden. Sie fühlen sich wohl bei mir, weil ich sie nicht störe. Mit ihnen ist es einfacher, als mit den Menschen“, setzte er versonnen hinzu.

„Du meinst, ich störe dich und darum magst du mich nicht? Und wenn ich dich nicht stören würde, würdest du mich mögen?“

Der Schalk sprach aus ihren Augen, als sie ihn ansah.

Es gelang ihm nicht, das Lachen zu unterdrücken.

„Genau so ist es“, bestätigte er und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass das ein Fehler war. Nun gab Lilli eine Probe ihrer Scharfsinnigkeit zum Besten.

„Du hast aber genau das Gegenteil bewiesen. Jetzt, wo ich dich gestört habe, habe ich dich zum ersten mal Lachen sehen. Also hast du dich gefreut, dass ich dich gestört habe. Wenn du mich aber magst, wenn ich dich nicht störe, heißt das, dass du mich immer magst.“

Gespannt auf seine Antwort, sah sie ihn spitzbübisch an.

Josef war entwaffnet und lächelte wieder. Lilli ist nicht, wie die anderen Kinder. Das wusste er jetzt. Aber zuzugeben, dass er sie mag, wäre ein zu großer Schritt. Also wechselte er das Thema.

„Warum bist du eigentlich so spät noch zu mir gekommen?“

„Ich will dir helfen. Im Dorf erzählen sie, dass du deine Frau umgebracht hast und ein Perverser bist.“

Josefs Stirn zog sich in Falten und er schaute Lilli verwundert an.

„Und dann hast du keine Angst vor mir?“

„Mutti hat mir beigebracht, nicht jedes Gerücht zu glauben. Und ich kann spüren, ob ein Mensch böse ist. Ich habe rausgekriegt, dass du nur einsam bist.“

„Ich bin nicht einsam.“

„Du hast aber deine Frau verloren. Warum bist du immer noch allein?“

Josef wurde nachdenklich. Er tauchte einen kleinen Moment in sein nebulöses Gedächtnis ab.

„Die andern Frauen sind nicht so, wie sie war. Und was ist mit Dir? Bist du nicht auch einsam? Vermisst du nicht deinen Vater?“

„Man kann nur vermissen, was man kennt, sagt Mutti immer, sonst ist es nur ein Wunsch, was man gern hätte. Und ich habe meinen Vater nie gesehen.“

„Hättest du denn gern deinen Vater bei dir?“

„Das kann ich dir sagen, wenn du mir sagst, wie er ist.“

Schon wieder. Nie hatte Josef so viel gelächelt.

„Wünscht du dir denn gar keine neue Frau?“

„Das kann ich dir sagen, wenn du mir sagst, wie sie ist“, konterte er.

„Sie ist wie ich“, schlug Lilli vor.

Statt einer Antwort drückte Josef Lilli an sich, während seine Augen feucht wurden. Lilli erwiderte sein drücken, froh ihr Ziel erreicht zu haben, und lehnte sich an ihn. Jetzt hatte sie ihren ersten Freund im Dorf und gleichzeitig einen echten Opa, der zu ihr gehörte.

Sie hatten nicht bemerkt, wie Sabines Auto angekommen war. Sie hatte im Haus nach Lilli gerufen und verfiel in Panik, weil die nicht antwortete. Als sie ihre Tochter bei Josef entdeckte, rannte sie hinüber und schrie ihren Namen. Genau im Moment der Umarmung erreichte sie Josefs Grundstück. Sie war immer noch erregt und das Gerücht, dass Josef ein Perverser sei, streifte ihr Unterbewusstsein. Nicht, dass sie das glaubte, aber was die Sicherheit ihrer Tochter betraf, da reichte schon, ein 'was wäre, wenn'.

„Komme sofort zu mir, Lilli“

„Tschüss Opa Josef, bis morgen.“

„Und sie sollten sich schämen, so kleine Kinder zu so später Stunde noch zu empfangen, ohne den Eltern Bescheid zu sagen.“

Sie zerrte Lilli weg.

Josef schüttelte traurig den Kopf. Warum wiederholen sich alle Geschichten immer wieder und warum ist nie eine Gute dabei?

Lilli

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