Читать книгу Lilli - Erwin Sittig - Страница 9
ОглавлениеJosef 2016
Bewegungslos saß der alte Mann vor seinem Häuschen. Die Jahre und das Leid waren in sein Gesicht gemeißelt. Viele tiefe Falten, die in unzählige Kleine mündeten, erweckten Ehrfurcht beim Betrachter. Unterstützt wurde dies durch sein volles, schneeweißes Haar und die Wetterbräune, die selbst durch die kurzen Bartstoppeln drang. Dem fahlen Mondlicht gelang es, diese eindrucksvolle Faltenlandschaft weiter zu vertiefen. Doch sein rundes Gesicht bemühte sich erfolgreich, sein Alter von 84 etwas abzumildern. Der breitkrempige Hut war sein Markenzeichen. Er trug ihn zu jeder Jahreszeit und war schon zünftig speckig.
Sein Blick, der dem Mond zugewandt war, schien nach innen gekehrt. Ein gelegentliches Augenblinzeln verriet, dass er am Leben war. Die Statur wirkte stämmig, jedoch nicht dick.
Er saß schon lange hier und hatte auf diese Minuten gewartet - die Abenddämmerung.
Ein lautloses Flattern regte seine Lebensgeister an und ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht, während er dem Flug der Fledermaus folgte.
Das war das Signal, dass der Reigen eröffnet ist und nacheinander der Rest seiner Horde unter der Holzverkleidung des Dachvorsprungs hervorkriechen würde, um die Jagd aufzunehmen. Josef beobachtete die kleinen Fledermäuse schon viele Jahre und mied den Dachboden, seit er bemerkt hatte, dass sie bei ihm Quartier bezogen haben. Es war ohnehin nur nutzloses Gerümpel dort zu finden. Jeden Abend saß er auf seiner Bank und zählte seine Untermieter. Gestern waren es 129. Eine recht große Kolonie, wie er recherchiert hatte.
Das leichte Bewegen seiner Lippen verriet das lautlose Zählen. Heute kam er nur auf 127, was unter Umständen daran lag, dass er nicht in der Lage war, alle zu erfassen, wenn viele von ihnen gleichzeitig davon flogen. Möglich, dass er sich die Zahl unbewusst schönrechnete, in Ermangelung an Konzentrationsfähigkeit.
Er genoss noch ein paar Minuten die angenehme Stille mit den leisen Atemzügen der Natur und erhob sich dann ächzend von seiner rustikalen Holzbank. Das Alter steckte schon rebellierend in seinen Knochen und so streckte er sich erst mal und ließ seinen Blick über die kleine Siedlung schweifen.
Als er vor ca. 10 Jahren das Häuschen gekauft hatte, wusste er, dass er hier sein Leben beenden würde. Sein Grundstück war das letzte im Ort und lag erhaben auf einem kleinen Hügel, der an ein Feld grenzte, das meistens mit Getreide bestellt wurde. Zur Linken breitete sich ein Wäldchen aus, in dem sich momentan seine Fledermäuse den Bauch vollschlugen. Nach unten hin reihten sich, immer weiter abfallend, die Parzellen der anderen Dorfbewohner. Sie zeigten sich beidseitig des Weges, der über einige Biegungen bis zu einem kleinen idyllischen See führte. Josef lächelte ein letztes Mal, als er an die beste Entscheidung seines späten Lebens dachte, sich hier niederzulassen.
Der einzige Wermutstropfen war, dass seine große Liebe Gabi, die er 1953 kennengelernt hatte und die 2 Jahre später spurlos verschwand, nicht bei ihm war.
Mit diesen trübsinnigen Gedanken setzt er sich, wie jeden Tag, schlürfend in Bewegung, um sich bettfertig zu machen.
Er war rechtschaffen müde, so dass ihn der Schlaf schnell zu sich nahm.
Wie ein Engel schwebte sie vor ihm und vollführte einen Tanz, als wolle sie ihn verführen. Mit leichten, fast durchsichtigen Tüchern, bewegte sie sich graziös auf einer Waldlichtung. Immer wieder schickte sie ihm kokette Blicke zu und die Sonne präsentierte ihr schönstes Gegenlicht, um für Josef den perfekten Körper seiner geliebten Gabi in Szene zu setzen. Bei so viel Schönheit wagte er es nicht, sich zu rühren. Doch dann kamen diese Wilden aus dem Wald geprescht und stürzten sich auf das Mädchen. Diese floh entsetzt ins Dickicht, weg von ihm. In Todesangst kreischte sie und schrie seinen Namen. Josef, hilf mir Josef. Warum kommst du nicht. Er sah die flatternden Tücher zu Boden fallen und die wilden Kerle liefen ihr hinterher und nahmen ihm letztendlich den Blick auf seine Gabi, die immer verzweifelter brüllte. Doch er blieb wie angewurzelt stehen, ebenso entsetzt über den Verlust, wie über seine Hilflosigkeit. Als er an sich herabsah, waren seine Beine zu Wurzeln mutiert, die tief in den Boden führten und ihn festhielten. Gabis Schreie wurden in der Ferne immer leiser, bis es totenstill war. Josef hatte zu lange gewartet. Doch hatten sich die Wurzeln seiner bemächtigt, oder entsprangen sie seinem Körper?
Nicht ein Vogel sang sein Lied. In ihm dröhnte eine schreiende Leere, die immer weiter anschwoll, bis er schließlich schweißgebadet aus seinem Albtraum erwachte. Es kam häufig vor, dass er von Gabi träumte und selten waren es erfreuliche Geschichten. Sein Herz raste wie wild und er empfand es wie ein Wunder, dass seine Träume nie zu einem Herzinfarkt geführt hatten.
Als wäre der Albtraum nicht genug, schmerzte höllisch sein rechter Arm, auf dem er vermutlich zu lange gelegen hatte. Es fiel ihm heute ausgesprochen schwer, seine Morgenwäsche hinter sich zu bringen. Doch er hatte die Erfahrung gemacht, dass gegen Schmerzen Bewegung die beste Medizin ist.
Josef freute sich schon auf sein Frühstück im Freien, die frische Luft, die Gesellschaft trällernder Vögel, zirpender Grillen und den Blick auf seinen gepflegten Garten. Das boten ihm weder Radio noch Fernsehen.
Er hatte nicht lange an seinem Frühstückstisch gesessen, als ein Auto vorfuhr. Es war seine Nachbarin. Die Alte, die immer versucht, sich auf jung zu trimmen. Er glaubte, zu wissen, dass sie Martha heißt. Ihr Alter taxierte er auf ca. 70 Jahre. Sie war einigermaßen rüstig, schnaufte aber schon, sobald sie den Hügel zu ihrem Haus emporstieg. Kein Wunder, wenn man sich soviel Winterspeck anfrisst, dachte er bei sich. Er hatte nie mehr als 4 bis 5 Worte mit ihr gewechselt. Das fehlte noch, dass dieses Geschnatter ihm den Tag vermiest. Er hoffte, dass sie bald wieder wegfahren würde.
Misstrauisch beobachtete er sie unauffällig aus den Augenwinkeln. Sie schleppte allerhand Krimskrams ins Haus hinein. Josef befürchtete Schlimmstes. Nicht dass sie den Sommer hier verbringen will. Bisher waren es immer nur gelegentliche Wochenendbesuche. Ihre schleimigen Gesprächsversuche hatte er stets im Ansatz abgewürgt, so dass sie sich beleidigt zurückzog. Das Problem war ein für alle Mal geklärt. Er hatte jetzt absolute Funkstille.
Gerade wollte er sich wieder seinem Frühstück zuwenden, als er beobachtete, wie Martha unbeholfen ein Kinderfahrrad aus dem Auto zerrte. Höchst alarmiert blieb ihm der Mund offen stehen und seine Augen fraßen sich an der Alten fest. Die schickte ihm einen um Hilfe flehenden Blick empor, aber Josef schaute demonstrativ weg. Mit großem Geschepper hatte sie es dann doch geschafft. Ihr lautstarkes Gefluche verkündete ihm, dass sie sich ein paar Kratzer im Autolack zugezogen hatte. Was kümmert's ihn. Ein Kinderrad hatte hier nichts zu suchen. Selbst schuld. Inzwischen war sie hinter ihrer Tür verschwunden und Josef widmete sich, wenn auch weiterhin beunruhigt seinem Frühstück. Der Kaffee wird jetzt fertig sein. Langsam schlurfte er ins Haus, um ihn zu holen.