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Gesetze – ein notwendiges Übel

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Der Umgang mit Gesetzen ist mühsam und beschwerlich, manchmal auch für Juristen. Gesetze taugen auch nicht zwangsläufig als Vorbild für gute und verständliche Sprache. Otto von Bismarck soll gesagt haben: „Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden.“ – Ein mir bekannter Fleischermeister isst nach seinen Erlebnissen in einer Geflügelzucht in der Tat keine Wurst mehr; keine Sorge, Bio ist natürlich was ganz anderes! Die Komplexität liegt einerseits darin begründet, dass Gesetze universell einsetzbar sein müssen. Jeden im täglichen Leben denkbaren Einzelfall durch ein einzelnes Gesetz zu regeln, wäre vielleicht im Sinne von Einzelfallgerechtigkeit wünschenswert, aber von vornherein ein hoffnungsloses Unterfangen. Das Leben ist bunt und der Herr hat einen großen Tiergarten. Das Leben hält auch immer mehr Fälle bereit, als es sich der noch so einfallsreiche Gesetzgeber je vorstellen kann – ganz egal, welcher Partei er angehört. Obwohl: Manche Politiker haben schon wirklich sehr, sehr viel Phantasie …

Anderenfalls, d. h. ohne die notwendige Flexibilität von Gesetzen, wäre es auch kaum möglich, die Gesetze stets dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. Das würde eine unerträgliche Verwaltungsarbeit und die ständige Revision von Einzelfallgesetzen bedeuten, was nicht wünschenswert sein kann. Aber natürlich gibt es das Atomgesetz in Deutschland erst, seit es Kernkraftwerke gibt, und natürlich wäre das Euro-Einführungsgesetz nicht notwendig gewesen, wenn der Euro zum 1. Januar 1999 nicht die D-Mark als Währung abgelöst hätte. Ständig kommen neue Gesetze „auf den Markt“, die im historischen Zeitablauf erstmals neu auftretende Phänomene oder Problemstellungen behandeln.

Ich will jedoch gerne zugeben, dass es auch allerlei unsinnige bzw. skurrile Gesetze und Verordnungen gibt, bei denen man sich mit gesundem Menschenverstand fragt, ob die Parlamentarier oder das jeweils normgebende Organ bei der Verabschiedung des Gesetzes bzw. der Rechtsnorm „zurechnungsfähig“ waren (gemeint ist hier die oben angesprochene Geschäftsfähigkeit). So regelt etwa § 27 Absatz 6 der Straßenverkehrs-Ordnung: „Auf Brücken darf nicht im Gleichschritt marschiert werden.“ Dass das statische Gründe hat und niemand gerne über eine Brücke geht, die zusammenzubrechen droht, liegt auf der Hand – aber muss man es gleich gesetzlich regeln?

Auch die frühere Zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr ZDv 3/11 liest sich so, als hätten die Verfasser noch die Nadel im Arm gehabt oder jedenfalls zu tief in den dienstlich gelieferten Flachmann geschaut. Dort hieß es zum „Leben im Felde“: „Ab einer Wassertiefe von 1.20 m hat der Soldat selbstständig Schwimmbewegungen aufzunehmen. Die Grußpflicht entfällt.“ Bravo. Ansonsten hätte man noch regeln müssen, dass der Soldat unter Wasser (auch unter Salzwasser?) die Augen zu öffnen hat, weil er sonst ja nicht sieht, wen er grüßt oder grüßen muss. Und der Deutsche Lehrerverband in Hessen stellte zur Sicherheit fest: „Besteht ein Personalrat aus einer Person, erübrigt sich die Trennung nach Geschlechtern.“ An Hermaphroditen (Zwitter) hatte man bei dieser Festlegung wohl nicht gedacht, aber lassen wir das. Es hat ja auch lange genug gedauert, bis diese Menschen nicht mehr mit dem Tode bedroht wurden. Bis immerhin 1994 stand ja, das wollen wir nicht vergessen, auch männliche Homosexualität in Deutschland noch unter Strafe, d. h. exakt bis 25 Jahre nach dem Jahr, in dem der erste Mensch (Neil Armstrong; nicht Louis, das war der andere mit der Trompete) einen Fuß auf den Mond setzte (1969). Wir lernen also: Technischer Fortschritt setzt sich schneller durch als gesunder Menschenverstand bzw. Menschlichkeit. Armes Deutschland.

Andere Gesetze hingegen haben Jahrhunderte überdauert. Das Bürgerliche Gesetzbuch etwa, das die Rechtsbeziehungen vornehmlich von Privatpersonen regelt und das unter anderem Vorschriften über Minderjährige, Kaufverträge, Immobilien, die Ehe und die Erbschaft enthält, datiert vom 18. August 1896. Es wird zwar regelmäßig reformiert, und Vorschriften etwa über Verbraucher oder Versandhandelsgeschäfte enthielt die Ursprungsfassung natürlich noch nicht, weil Amazons Anfänge definitiv nicht bis in das 18. Jahrhundert zurückreichen. Und doch ist es den Verfassern des BGB seinerzeit gelungen, einen Kernbestand an Regelungen zu entwerfen, die auch heute noch Gültigkeit beanspruchen und jedenfalls von den meisten Menschen als gerecht empfunden werden.

Ein wenig aus der Zeit gefallen, sprachlich und inhaltlich, scheint inzwischen dennoch auch das Bürgerliche Gesetzbuch. In § 961 dieses Gesetzes heißt es: „Zieht ein Bienenschwarm aus, so wird er herrenlos, wenn nicht der Eigentümer ihn unverzüglich verfolgt oder wenn der Eigentümer die Verfolgung aufgibt.“ Man stelle sich einmal vor, dass jemand heutzutage (gibt es dafür nicht eine App?) zu Fuß seinen Bienenschwarm verfolgt und dabei die Avus in Berlin überquert, was infolgedessen zu einer Massenkarambolage mit einem Sachschaden von nicht weniger als 20 Millionen Euro führt (für alle Nicht-Berliner: Die AVUS – Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße – ist heute ein Teil des Berliner Rings und war die erste ausschließliche, im Jahr 1921 für den Verkehr freigegebene Autostraße Europas).

Oder man stelle sich vor, dass jemand im 5. Stock eines Mehrfamilienhauses in Hamburg-Winterhude die Wohnung des Nachbarn aufbricht, weil der Bienenschwarm zu dessen Küchenfenster hereingeflogen und im Küchenschrank neben dem guten Hutschenreuther-Geschirr (Modell Zwiebelmuster) von Oma sesshaft geworden ist. Ist das dann Hausfriedensbruch, der nach § 123 des Strafgesetzbuches mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft wird (natürlich begangen durch den einbrechenden Nachbarn, nicht durch den Bienenschwarm)? Wer „in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossene Räume, welche zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmt sind, widerrechtlich eindringt, oder wer, wenn er ohne Befugnis darin verweilt, auf die Aufforderung des Berechtigten sich nicht entfernt“, macht sich schließlich nach dieser Vorschrift im Grundsatz des Hausfriedensbruchs schuldig.

Hier aber hilft dem Bienenfreund möglicherweise § 962 des Bürgerlichen Gesetzbuchs weiter: „Der Eigentümer des Bienenschwarms darf bei der Verfolgung fremde Grundstücke betreten. Ist der Schwarm in eine fremde nicht besetzte Bienenwohnung eingezogen, so darf der Eigentümer des Schwarmes zum Zwecke des Einfangens die Wohnung öffnen und die Waben herausnehmen oder herausbrechen. Er hat den entstehenden Schaden zu ersetzen.“ Bei solchen Sätzen gerät der überzeugte Jurist gänzlich in Ektase, sie befördern ihn geradezu direkt ins Elysion. Die spannende Frage ist jetzt: Ist die Wohnung des Nachbarn eine „Bienenwohnung“ im Sinne von § 962 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, obwohl sie zugleich eine „Wohnung“ im Sinne des § 123 Strafgesetzbuch ist? Wer das nicht spannend findet, wäre für ein Studium der Rechtswissenschaften ebenfalls ungeeignet und kann weiterhin ein friedliches, unbescholtenes und deutlich glücklicheres Leben führen. Jedenfalls wäre das Verhalten des Bienenfreunds in diesem Fall wohl gerechtfertigt.

Historisch betrachtet kann das wohl kaum so sein, weil die Verfasser des Gesetzes vermutlich eher den gewöhnlichen Bienenstock im ländlichen, 8.000 qm Garten (und nicht den 8 qm Balkon in Hamburg-Winterhude mit einem Quadratmeterpreis von 6.000 Euro) vor Augen hatten. Oder kann auch der von den Bienen heimgesuchte Küchenschrank eine Bienenwohnung in diesem Sinne sein? Falls ja, darf der Nachbar dann zuvor auch die Eigentumswohnung öffnen, um zur eigentlichen Bienenwohnung zu gelangen? Auch gibt es keine Vorschrift, die das Halten von Bienen in Hamburg-Winterhude verbieten würde. Immerhin gestattet uns, freilich in gewissen Grenzen, die sogenannte allgemeine Handlungsfreiheit, zu tun und zu lassen, was und wie es uns beliebt. Das Grundgesetz drückt dies in Artikel 2 Absatz 2 so aus: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Ob die Haltung von Bienen in Innenstadtbereichen ordnungs- oder sittenwidrig ist, mag nun jeder Leser für sich selbst beantworten. Aber Vorsicht: Auch in Hamburg-Winterhude wird gerne Honig gegessen!

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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