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Licht am Ende des Tunnels – ein entgegenkommender Zug?

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Ich möchte kurz noch einmal auf die oben genannten Antworten der Studierenden zurückkommen. Ich gebe freimütig zu: Es stimmt mich (ad 1) durchaus nachdenklich, dass junge, mündige und im Durchschnitt nicht auf den Kopf gefallene Studierende so mir nichts, dir nichts ausländischen Mitbürgern tatsächlich die Menschenwürde des Artikels 1 des Grundgesetzes aberkennen wollen – auch wenn ich sicher bin, dass sie die Tragweite ihrer etwas flapsigen Antwort nicht im Mindesten umrissen oder gar vollständig durchdrungen haben.

Auch muss man (ad 2) kein Gelehrter der Rechtswissenschaften sein, um zu vermuten, dass die Religionsfreiheit des Artikels 4 des Grundgesetzes jedwede Religionsausübung gewährleistet, d. h. selbstverständlich nicht nur die des Christentums. Es kann ja ebenso wenig ernsthaft in Frage stehen, dass auch in Schleswig-Holstein einem Erzkatholiken das Praktizieren seines Glaubens gestattet sein muss, selbst wenn die überwiegende Zahl der Menschen dort protestantisch ist. Zum Schmunzeln regt immerhin (ad 3) die Ansicht an, dass die Rechtsfähigkeit des Menschen mit Vollendung des 18. Lebensjahres eintrete, weil hier ganz offenkundig die Rechtsfähigkeit etwas tragisch mit der Geschäftsfähigkeit verwechselt wurde. Aber man studiert ja immerhin, um etwas Neues zu lernen, und so kläre ich die Verwechslung geduldig und gerne auf.

Die Rechtsfähigkeit, die übrigens nicht im Grundgesetz, sondern in § 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs geregelt ist, besteht nämlich schon mit der Vollendung der Geburt und bedeutet schlicht, dass der Mensch Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Bereits in den ersten Lebenstagen kann der Mensch daher beispielsweise eine Erbschaft machen oder der – zugegeben wenig attraktiven – gesetzlichen Verpflichtung unterliegen, Einkommensteuer zu zahlen. Ein berühmter Satz, den jeder Jurastudent kennt, lautet: „Ist das Kindchen noch so klein, kann es doch schon Erbe sein.“ Und der erste Brief, den meine Tochter im Alter von ca. 14 (in Worten: vierzehn) Tagen (!) zugestellt bekam, war ein an sie persönlich adressierter Brief des Bundeszentralamts für Steuern mit Sitz in Berlin, der ihre persönliche, lebenslang gültige sog. Steueridentifikationsnummer enthielt.

Solange solche Vorgänge in Deutschland noch reibungslos funktionieren (wohingegen man z. B. seltsamerweise ohne die formale Vorlage einer sog. Ledigkeitsbescheinigung beim Standesamt nicht heiraten kann, obwohl die beteiligten Behörden im Amt meist Tür an Tür sitzen und die erforderlichen Informationen daher alle bekannt sind – nach meiner Kenntnis gibt es heutzutage sogar schon Computer, die Daten speichern können!), müssen wir uns über den vielbeschworenen Untergang des Abendlandes keine Sorgen machen. Die deutsche Gründlichkeit ist nun einmal die große Schwester des Behördenwahnsinns (denken Sie an den berühmten Verwaltungsdreiklang: gelesen, gelacht, gelocht!). Unwillkürlich fühlt man sich an den Klassiker des Hauptmanns von Köpenick aus dem beginnenden 20. Jahrhundert erinnert (meisterhaft verarbeitet in einem Theaterstück von Carl Zuckmayer und brillant gespielt vom unvergessenen Harald Juhnke): „Ohne Pass gibt es keine Arbeit und ohne Arbeit keinen Pass.“ Sie müssen in diesem Satz nur das Wort „Pass“ durch das Wort „Steueridentifikationsnummer“ ersetzen, und schon haben Sie die höchste Stufe des Realitätsverlusts erreicht. Das juristische Nirwana sozusagen, nach dem alle Rechtsverdreher streben (ansonsten wird man als Wurm wiedergeboren). Tatsächlich aber müssen Arbeitgeber heute für die korrekte Lohnabrechnung die Steueridentifikationsnummer mitgeteilt bekommen, und selbstständig Tätige müssen diese im Rahmen der Einkommensteuererklärung ebenfalls angeben. Aber das nur am Rande.

Im Übrigen wäre, um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukommen, die Konsequenz der Verneinung der Rechtsfähigkeit eines sechzehnjährigen Schülers die unweigerliche Frage, wie der Schüler denn ansonsten rechtlich einzuordnen wäre: Handelt es sich dann rechtlich um eine Sache gemäß § 90 BGB (ein körperlicher Gegenstand?) oder gar eine sogenannte nichtrechtsfähige Vermögensmasse? Scherze über adipöse Jugendliche (Motto: „Stau am dritten Ring“) aus reichem Elternhaus aber verbieten sich selbstverständlich, zumal in öffentlichen Vorlesungen. Bei Äußerungen dieser Art würde der Dozent heute auch sicherlich sofort mit einer Klage nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) überzogen werden, das Schutz vor Diskriminierungen bieten soll. Dem soll hier daher nicht weiter nachgegangen werden, auch wenn es sich nicht leugnen lässt, dass Bildung im wahrsten Sinne des Wortes heute oft weniger Gewicht hat.

Und falls Sie es noch nicht wussten, noch der Vollständigkeit halber: Die Grundrechte können (ad 4) – Gott sei Dank – nicht nur nicht von der Bundesregierung nach Gutdünken geändert werden, sondern sie können überhaupt nicht geändert werden (siehe Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz). Eine Welt, in der die Bundesregierung, oder schlimmer noch der Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin im Alleingang, je nach Tagesgeschehen, Stimmungslage oder politischer Couleur, die Grundrechte ändern oder abschaffen könnten, erscheint unvorstellbar, wird aber doch mit aller Ernsthaftigkeit von Studierenden vorgetragen. Das wäre aber dann doch wohl eher die Situation eines Staatsstreiches (auch Putsch genannt), was keineswegs lustig ist und im Übrigen mit den Studierenden noch gut bekannten, allerorten üblichen „Abi-Streichen“ nichts gemein hat.

Vor allem historisch betrachtet endeten Staatsstreiche regelmäßig mit Blutvergießen. Denken Sie nur an den Geschichtsunterricht und den leider fehlgeschlagenen Hitlerputsch von 1923 oder neuerdings an die Entmachtung des ägyptischen Präsidenten Mursi durch das Militär im Jahr 2013. Hinzu kommt: Der AfD-Partei z. B. wäre eine solche Änderungsmöglichkeit hinsichtlich der Grundrechte von Minderheiten sicherlich sehr willkommen, insofern bleibt zu hoffen, dass diese Gruppierung auch weiterhin nur eine sehr untergeordnete politische Rolle spielen wird. Die Anschläge auf die Demokratie kommen aber näher, und zwar leider im bittersten Sinne des Wortes, wenn ich nur an den Anschlag des Islamischen Staates auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche im Dezember 2016 in Berlin denke. Manche Äußerungen des gegenwärtigen US-Präsidenten Trump lassen leider ebenfalls den Schluss zu, dass Grundrechte eher als bloße Empfehlungen denn als zwingende gesetzliche Leitlinien anzusehen wären. Er lebt, fernab von jedem staatsmännischen Habitus, nach dem „Pippi Langstrumpf-Prinzip“: „Ich mache mir die Welt, […] wie sie mir gefällt.“

Im Übrigen hat es Änderungen des Grundgesetzes seit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 1949 zwar nicht zahlreich, aber doch immer wieder gegeben: Durch Neufassung des Artikels 12a Absatz 4 des Grundgesetzes am 19. Dezember 2000 beispielsweise ist bei der Bundeswehr der freiwillige Dienst von Frauen an der Waffe möglich geworden. Vor der Grundgesetzänderung hieß es im Artikel 12a Absatz 4 Satz 2 des Grundgesetzes, dass Frauen „auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten dürfen“. Nunmehr heißt es dort nur noch: „Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.“ Das mag spitzfindig oder kleinkariert klingen, je nach Sichtweise. Wer aber in beiden Formulierungen auch nach mehrwöchigem Nachdenken keinen Unterschied erkennen kann (Gleiches gilt übrigens beispielsweise für den Unterschied der Worte „anscheinend“ und „scheinbar“), der wäre jedenfalls für ein Studium der Rechtswissenschaften ungeeignet. Das darf man durchaus als Kompliment verstehen! An derlei Wortspielen können sich Advokaten stundenlang ergötzen – das hat ähnliches Suchtpotenzial wie Schokolade, macht aber nicht dick. Die Juristen sind schon ein merkwürdiges Völkchen, und wer nicht dazu gehört, lebt mitunter leichter. Dem früheren französischen Staatsmann Charles de Gaulle wird das Bonmot zugeschrieben: „Die zehn Gebote sind deswegen so kurz und logisch, weil sie ohne Mitwirkung von Juristen zustande gekommen sind.“ Da ist, wie bei den meisten Sinnsprüchen oder Sprichwörtern, durchaus im Kern etwas Wahres dran.

Die genannte Neufassung des Artikels 12a Absatz 4 des Grundgesetzes, die übrigens auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zurückgeht, lässt es damit heute zu, Frauen auf freiwilliger (beruflicher) Basis den Zugang zum Dienst an der Waffe zu ermöglichen – auch wenn weite Teile der männlichen Streitkräfte dies als unnötigen Mumpitz abgetan haben (in Wahrheit sind natürlich noch deutlichere Worte gefallen, die ich mir und Ihnen hier aber ersparen möchte). Ich bin in der größten Garnisonsstadt in Norddeutschland aufgewachsen und weiß, wovon ich spreche. Aber wer mag schon beklagen, dass in sämtlichen deutschen Kasernen für unglaublich viel (Steuer-)Geld Damentoiletten eingebaut werden mussten, wenn unser ranghöchstes Gesetz genau dies vorgibt (oder besser gesagt, wenn hochrangige Verfassungsrichter behaupten, das Grundgesetz gebe dies vor)? Bevor ich aber für diese spöttischen Äußerungen wegen Hochverrats (auch das gibt es noch, der gute alte Captain Jack Sparrow lässt grüßen, siehe § 81 Strafgesetzbuch) belangt werde, wechsle ich lieber schnell das Thema.

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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