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NachbarRECHT

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Anders verhält es sich da schon mit dem Beispiel (b). Hier sieht die fiktive Gemeindesatzung vor, dass zwischen der Grundstücksgrenze des Nachbarn und einer etwaigen Bebauung (wie z. B. einem Carport) ein Mindestabstand von 80 cm einzuhalten ist. Es ist, wenn Sie jetzt das Beispiel (b) durchdenken, unmittelbar einsichtig, dass der Nachbar Meyer sich ohne jeden Zweifel an die Vorgaben der Gemeindesatzung gehalten hat, denn er hat beim Aufstellen der Stützpfeiler für sein Carport zur Grundstücksgrenze des Nachbarn Schulze sogar einen Abstand von 90 cm (also „10 mehr als notwendig“) eingehalten.

Nun kann es ja durchaus sein, dass die „Beschwerde“ des Nachbarn Schulze jetzt trotzdem vor einem Gericht landet. Dies ist vielleicht sogar überwiegend wahrscheinlich. Auch wenn Sie kein Jurist sind, so werden Sie sicherlich schon gehört oder es sogar selbst erlebt haben, dass Nachbarschaftsstreitigkeiten die Gerichte seit jeher beschäftigen. Nicht immer geht es dabei sachlich zu. So mussten deutsche Gerichte sich schon damit befassen, ob Gartenzwerge mit obszönen Gesten (Stichwort „Mittelfinger“) eine Beleidigung des Grundstücksnachbarn darstellen können und ob der Beleidigte einen Anspruch auf Entfernung der Gartenzwerge hat (Amtsgericht Grünstadt vom 11.2.1994, Aktenzeichen 2a C 334/93).

Ferner musste entschieden werden, ob der Nachbar einen Anspruch darauf hat, dass der Beklagte sein Auto vorwärts oder rückwärts in seine eigene Garage einzuparken hat (Amtsgericht Nürnberg-Fürth vom 29.7.1998, Aktenzeichen 11 S 11191/97), ob ein Nachbar auf seiner eigenen Toilette zum Urinieren im Sitzen gezwungen werden kann (Amtsgericht Wuppertal vom 14.1.1997, Aktenzeichen 34 C 262/96) oder ob der Nachbar einen Anspruch darauf hat, dass eine das Sonnenlicht reflektierende Plane vom Swimming-Pool des Nachbarn zu entfernen ist (Oberlandesgericht Brandenburg vom 16.9.2003, Aktenzeichen 6 U 144/02). Diese Liste ließe sich mit ganz realen Beispielen nahezu beliebig fortsetzen und würde problemlos allein ein ganzes Buch füllen.

Wenn wir stattdessen – wie langweilig – zurück zum Beispiel (b) kommen, würde ein Richter, der auf die Beschwerde des Nachbarn Schulze hin den Fall zu entscheiden hätte, sicherlich urteilen: Der Nachbar Meyer „hat Recht“. Er könnte alternativ auch sagen, Nachbar Meyer sei „im Recht“. Beides ist hier jedoch nicht im Sinne von Wahrheit oder Richtigkeit zu verstehen, sondern auf „Recht haben“ bezogen, auf einen bestimmten Ordnungsrahmen oder ein bestimmtes Wertesystem. Dieser Ordnungsrahmen ist im Beispiel (b) die Gemeindesatzung, die die Abstandsflächen verbindlich für alle in ihrem Anwendungsbereich wohnenden Bürger vorgibt. Das „Recht haben“ in diesem Sinne ist daher nie „Gott gegeben“ und ergibt sich nicht objektiv aus der Natur einer Sache, sondern erklärt sich immer nur vor dem Hintergrund von Rechtsbestimmungen, die der Mensch erschaffen hat.

In den meisten Lebensbereichen sind diese Bestimmungen oder dieser Ordnungsrahmen dem sogenannten geschriebenen Recht zugehörig, mit anderen Worten, es existieren verbindliche geschriebene Regelungen für einen Interessenkonflikt oder einen zu regelnden Bereich. In einem ordnungsliebenden Beamtenstaat wie Deutschland gibt es diese Regelungen natürlich in Hülle und Fülle. Unkenrufe besagen, dass mehr als 70 % aller Gesetze und Vorschriften weltweit aus Deutschland kommen.

Ob das stimmt, wird man kaum jemals verifizieren bzw. falsifizieren können, aber für gänzlich unplausibel kann man es auch nicht unbedingt halten. Diese Regelungen werden beispielsweise Gesetze, Verordnungen, Richtlinien oder Satzungen genannt, und sie haben oft auch eine unterschiedliche Wertigkeit bzw. Rangfolge. Ihnen allen ist aber gemeinsam, dass sie für einen bestimmten Regelungsbereich oder einen bestimmten Interessenkonflikt von verschiedenen Menschen oder einer Gruppe von Menschen für alle von ihnen betroffenen Personen „Recht“ schaffen, indem sie schriftlich und verbindlich niedergelegt werden und so eine universelle Gültigkeit erlangen.

Sie, lieber Leser, werden auch sofort erkannt haben, dass es im Beispiel (b) nicht um „wahr“ oder „unwahr“ geht, sondern um „falsch“ oder „richtig“, und zwar bezogen auf den vorgegebenen Ordnungsrahmen „Gemeindesatzung.“ Letzteres ist wichtig in Bezug auf die Abgrenzung zum Beispiel (a): Im Beispiel (a) ist die Aussage von Markus objektiv richtig, weil man die Entfernung zwischen Hamburg und Hannover nachmessen kann. Im Beispiel (b) ist das Vorgehen des Nachbarn Meyer ebenfalls richtig, aber eben nur vor dem Hintergrund der vorgegebenen Gemeindesatzung. Der Nachbar Meyer verhält sich insoweit nämlich völlig korrekt. Natürlich könnte er auch lügen. Er könnte den Stützpfeiler des Carports auch bis auf 70 cm an die Grundstücksgrenze des Nachbarn Schulze heransetzen und einfach behaupten, der Abstand betrüge 80 cm. Dies allerdings würde einer objektiven Überprüfung, zum Beispiel durch einen von einem Gericht bestellten Gutachter, nicht standhalten, so dass der Meyer in einem entsprechenden Prozess vor Gericht verlieren würde.

Wir werden später aber noch sehen, dass ein „Recht haben“ nicht zwangsläufig auch zu einem „Recht bekommen“ führt. Das „Recht haben“ resultiert aus einer objektiven Tatsache in Bezug auf einen Ordnungsrahmen oder ein Wertesystem (meist das geschriebene Recht), das „Recht bekommen“ resultiert aber erst aus einer durch den Anspruchsteller beweisbaren Tatsache und einer entsprechenden Durchsetzung seiner Rechte im Prozess. Ideal ist es, wenn beides zusammenfällt, aber im echten Leben ist dies bei weitem nicht immer der Fall.

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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