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Wer schreibt, der bleibt

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Betrachten Sie jetzt bitte das Beispiel (c). Auch hier geht es ersichtlich nicht um die Kategorien „wahr“ oder „unwahr“, sondern um einen Interessenkonflikt zweier Parteien, der auf Basis des Rechts entschieden werden muss. Nur woraus ergibt sich dieses Recht, d. h. der heranzuziehende Ordnungsrahmen in diesem Fall? Wenn im Arbeitsvertrag mit dem Arbeitnehmer Gierig eine entsprechende Zahlungsverpflichtung des Arbeitgebers hinsichtlich des Weihnachtsgeldes vereinbart worden wäre, würden Sie mir sicherlich zustimmen, dass der Arbeitnehmer Gierig einen Anspruch auf Zahlung des Geldes auch im Jahr 2017 hätte. Der Gierig hätte vermutlich nur den Nachteil, dass er dann wohl nie eingestellt worden wäre, denn mit so einem gierigen Arbeitnehmer, der sich pauschal im Vorhinein und unabhängig vom Gewinn seiner Firma über einen Zeitraum von 17 Jahren das Weihnachtsgeld sichern möchte, wollen die wenigsten Arbeitgeber etwas zu tun haben.

Was aber ist zu tun, wenn es kein geschriebenes Recht gibt, das diesen Sachverhalt regelt? Diese Fälle sind vergleichsweise selten in Deutschland, aber sie kommen vor. Im Beispiel (c) ist daher nicht auf geschriebenes, sondern auf sogenanntes ungeschriebenes Recht zurückzugreifen. Ein Beispiel für ungeschriebenes Recht ist das sogenannte Gewohnheitsrecht, das unter bestimmten Umständen genauso wirksam ist wie geschriebenes Recht, d. h. die Bürger können daraus ebenfalls Ansprüche für sich herleiten. Eben so, als handelte es sich um geschriebenes Recht.

Konkret im Beispiel (c) nennt man das Gewohnheitsrecht auch „betriebliche Übung“. Das ist ein spezieller Begriff aus dem Arbeitsrecht. Un­ter ei­ner be­trieb­li­chen Übung ver­steht man im Arbeitsrecht die re­gelmäßige Wie­der­ho­lung be­stimm­ter gleichförmi­ger Ver­hal­tens­wei­sen des Ar­beit­ge­bers (hier die Zahlung des Weihnachtsgeldes jeweils zum Jahresende über einen Zeitraum von 16 Jahren), auf­grund de­rer die Ar­beit­neh­mer dar­auf ver­trau­en können, dass ih­nen ei­ne be­stimm­te Vergüns­ti­gung auf Dau­er gewährt wer­den soll. Ei­ne be­trieb­li­che Übung führt zu ei­ner Ver­bes­se­rung der ar­beits­ver­trag­li­ch gewährten Rech­te des Ar­beit­neh­mers und da­mit zu ei­ner stillschweigenden in­halt­li­chen Ände­rung des Arbeitsvertrags, obschon sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht ausdrücklich darauf verständigt haben. Für das persönliche Wohlbefinden beider Parteien wäre es allerdings ratsam gewesen, eine ausdrückliche Änderung des Arbeitsvertrags herbeizuführen. Das erspart Frust und Prozesskosten. Ungeschriebenes Recht durchzusetzen, ist immer ungleich schwieriger.

Zum ungeschriebenen Recht gilt das oben zum geschriebenen Recht Gesagte, d. h. es hat in erster Linie ebenfalls nichts mit Gerechtigkeit zu tun, sondern es wird dadurch ein bestimmter Lebensbereich sachlich geregelt. Die jeweilige (geschriebene bzw. ungeschriebene) Regelung mag sinnvoll oder unsinnig sein, sie wird sich aber aus sich selbst heraus nur schwerlich in die Kategorien „gerecht“ oder „ungerecht“ fassen lassen.

Wenn wir beispielsweise geschriebenes Recht einmal doch als ungerecht empfinden, dann wird die jeweilige Regelung erstens oft einen Interessenkonflikt lösen wollen (d. h. nicht wie im Beispiel (b) eine sachliche Regelung treffen) und es wird diese empfundene Ungerechtigkeit zweitens oft im Vergleichsmaßstab begründet sein. Stellen Sie sich einmal vor, die im Beispiel (b) beschriebene Gemeindesatzung würde sowohl in der Innenstadt von Berlin als auch auf dem platten Land in Norderfriedrichskoog (Schleswig-Holstein; drei Einwohner, 20 Kühe) gelten. Der Nachbar aus Norderfriedrichskoog wird die in der Gemeindesatzung getroffene Regelung über die Abstandsflächen im Vergleich zu einem Nachbarn in Berlin mit Recht als ungerecht empfinden, weil in Norderfriedrichskoog für derartig knappe Abstandsflächen keine sachliche Rechtfertigung erkennbar ist. Im Übrigen lässt sich allgemein sagen, dass – nicht nur in Deutschland – der Wille der Bürger, Gesetze zu befolgen, deutlich höher ist, wenn dahinter ein Sinn bzw. eine als gerecht empfundene Regelung erkennbar ist. Das haben nur noch nicht alle Politiker internalisiert (= verinnerlicht).

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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