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Anwalt: „Wir haben den Prozess gewonnen,
die Gerechtigkeit hat gesiegt.“
Mandant: „Legen Sie sofort Berufung ein.“

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Mit der Gerechtigkeit allerdings ist das auch nicht so einfach. Wenn die Ihnen nun schon bekannte Gemeindesatzung pauschal in der ganzen Bundesrepublik Anwendung fände, dann wäre dies ohne Zweifel objektiv gerecht, weil alle in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen (die mit Sicherheit alle auch irgendwie Nachbarn sind und haben) hiervon betroffen wären. Eine solche pauschale Anwendung einer Regelung wäre auch administrativ einfach zu verwalten und zu überwachen. Weder die Bürger als Adressaten der Satzung, noch die Verwaltungsbehörden müssten lange und umständlich prüfen, in welchem Ort welche Abstandsfläche gilt. All dies gilt aber nur, wenn man isoliert den Menschen (Nachbarn) als Bezugspunkt für die sachliche Regelung über die Abstandsflächen wählt. Wenn man hingegen ein anderes Vergleichspaar wählt und beispielsweise die Nachbarn in Berlin und Norderfriedrichskoog vergleicht, dann wird man schnell zu dem Schluss kommen, dass das geschriebene Recht „ungerecht“ sei, denn die Nachbarn befinden sich aufgrund der unterschiedlichen Platz- und Raumverhältnisse (Stadtstaat hier, Flächenstaat dort, Smog hier, frische Luft dort) schlicht nicht in einer vergleichbaren Lage. Empfundene und objektive Gerechtigkeit gehen dabei oft weit auseinander. Wie ein alter Paukerwitz es ausdrückt: „Ein Prüfling ist gerade durchgefallen und verlässt das Gebäude, als von oben sein Prüfer herunter ruft: «Sie haben doch bestanden, der hier ist noch viel schlechter...»“.

Objektive Gerechtigkeit und objektiv gerechte Gesetze lassen sich daher auch in einem Rechtsstaat nie absolut, sondern immer nur relativ zu einem Bezugspunkt verwirklichen. Entscheidend ist, ob sich zwei Adressaten einer Rechtsnorm auch in einer objektiv vergleichbaren Situation befinden. Falls dies der Fall ist, wird man, auch wenn die Rechtsnorm nur sachlich einen bestimmten Lebenssachverhalt regelt, wohl auch von einer gerechten Rechtsnorm sprechen können. Ist die Rechtsnorm nach diesen Maßstäben ungerecht, weil sie entweder objektiv vergleichbare Sachverhalte ungleich behandelt oder objektiv nicht vergleichbare Sachverhalte gleich behandelt, so ist dies zwar misslich, hat auf die Wirksamkeit der Rechtsnorm aber zunächst einmal keinen Einfluss.

Betrachten Sie nun bitte das Beispiel (d). Kinder sind bekanntlich lieb und teuer. Bei kleinen Kindern überwiegt in der Regel Ersteres, bei größeren Letzteres. Aber auch kleine Kinder kosten viel Geld (Windeln sind wirklich unglaublich teuer!), so dass sich unser Sozialstaat dankenswerterweise entschieden hat, sich an den Kosten zu beteiligen. Irgendwer muss ja schließlich auch für meine Rente sorgen. Denn: Neue Kinder braucht das Land. Befinden sich die Ehepaare Müller und Mertens insoweit in einer objektiv vergleichbaren Lage? Sie werden mir sicher zustimmen, dass dies nicht der Fall ist, denn jedes einzelne Kind kostet Geld, so dass das Ehepaar Mertens mit zwei Kindern gewissermaßen auch doppelt finanziell belastet ist. Die Regelung, dass jedes Ehepaar pro Kind 100 Euro ausgezahlt bekommen soll, ist ohne Zweifel eine objektiv gerechte Regelung, denn sie begünstigt alle Ehepaare gleichermaßen. Jedenfalls ist sie keinesfalls relativ ungerecht gegenüber dem Ehepaar Müller, denn das Ehepaar Müller erhält exakt die gesetzlich vorgesehene Begünstigung. Gleiches gilt für das Ehepaar Mertens, denn auch dieses Paar erhält exakt die gesetzlich vorgesehene Begünstigung. Sie ist zwar höher als beim Ehepaar Müller, aber genau dies besagt ja die entsprechende gesetzliche Regelung.

Das Beispiel (d) ist auch ein schönes Beispiel dafür, was „Recht“ noch bedeuten kann. Wenn man sagt, dass das Ehepaar Müller einen Anspruch auf Zahlung des Kindergelds habe, dann kann das auch nur schlicht bedeuten: Das Ehepaar Müller hat ein Recht auf Zahlung des Kindergeldes. Sie sehen also, der Begriff „Recht“ wird umgangs- und fachsprachlich in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet.

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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