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Zwei Juristen, drei Meinungen

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Das kleine Beispiel hat schon gezeigt, worum es so gut wie immer im Recht geht: Gesetzesauslegung einerseits und Güterabwägung andererseits. Da Gesetze notwendigerweise lückenhaft und allgemein gehalten sind, weil sie nicht jeden theoretisch denkbaren Einzelfall erfassen können, muss ihr Wortlaut ausgelegt werden. Die Auslegung, die in einem Rechtsstaat letztverbindlich nur Gerichten obliegen kann, ist gewissermaßen der Prozess, der dazu führt, dass einem bestimmten Gesetzeswortlaut verbindlich eine bestimmte inhaltliche Bedeutung beigemessen wird. Dabei kann, wie wir oben gesehen haben, diese Bedeutung unglücklicherweise von Gesetz zu Gesetz variieren, auch wenn in beiden Gesetzen eindeutig derselbe Wortlaut verwendet wird.

Die bereits genannten Einzelfallgesetze, die ja die theoretisch denkbare Alternative zu allgemein gehaltenen Gesetzen sind, wären im Übrigen nicht nur praktisch kaum denkbar und administrativ kaum zu kontrollieren, sondern nach deutschem Recht sogar verboten, jedenfalls soweit sie die Einschränkung von Grundrechten beinhalten. Artikel 19 Absatz 1 des Grundgesetzes hat den Wortlaut: „Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten.“

Das darin enthaltene Verbot des Einzelfallgesetzes hat den folgenden Hintergrund: Stellen Sie sich vor, die Mitglieder des OSWFC (der einzige von Lucasfilm lizenzierte, offizielle Star Wars Fan-Club im deutschsprachigen Raum) möchten mit ihren Lichtschwertern auf dem Hamburger Jungfernstieg zum Thema „Schwarze Magie für Alle“ demonstrieren. Der Hamburger Bürgermeister, der „Das Erwachen der Macht“ inkognito im Kino gesehen hat, hat, angesichts seiner jüngsten Erfahrungen mit dem G20-Gipfel, Angst vor den Folgen. Eilig erlässt er über das Hamburger Parlament, dort historisch „Bürgerschaft“ genannt, ein Gesetz, welches genau diese Demonstration verbieten soll.

Nun muss man sehen, dass die Versammlungsfreiheit von Artikel 8 des Grundgesetzes umfassend geschützt wird. Um einen Missbrauch von Macht seitens der Regierung zu verhindern, müssen daher Gesetze, die in besonders wichtige Rechtsgüter eingreifen, allgemein („abstrakt-generell“, wie der Jurist sagt) gefasst sein. Die Regelung von Einzelsachverhalten soll in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung allein der Verwaltung (Administrative), nicht aber dem Parlament (Legislative) vorbehalten sein. Nun muss man also nur noch wissen, wann ein Gesetz in diesem Sinne „allgemein“ gehalten ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (das ist unser höchstes deutsches Gericht) ist dies dann erfüllt, wenn sich wegen der abstrakten Fassung der gesetzlichen Tatbestände nicht absehen lässt, auf wie viele und welche Fälle das Gesetz Anwendung findet und wenn nicht nur ein einmaliger Eintritt von Rechtsfolgen möglich ist.

Was schließlich die Güterabwägung anbelangt, so ist zu bedenken, dass immer dann, wenn mehr als eine Person in einem Raum ist, der Boden für potenziellen Streit bereitet ist. Zum Streiten gehören bekanntlich immer mindestens zwei Personen – außer vielleicht in den Fällen äußerster Schizophrenie. Hinzu kommt, dass der Vorteil des einen oft zwangsläufig der Nachteil des anderen ist (Recht zu haben ist bekanntlich nur halb so schön, wenn kein anderer Unrecht hat) und dass gänzlich gleichgelagerte Interessen bei verschiedenen Personen nur sehr selten vorkommen. Verschiedene Interessen gilt es also auszutarieren, und zwar mit Hilfe von Gesetzen. Sofern sich jedoch die Inhaber verschiedener Interessen auf unterschiedliche, oder schlimmer noch dieselben Rechtsnormen zu ihren Gunsten berufen, muss letztlich eine Abwägung getroffen werden, welches Interesse im Einzelfall überwiegt. Diese Aufgabe obliegt in einem Rechtsstaat der Rechtsprechung (Judikative), die in der Praxis viel häufiger reine Wertentscheidungen zu treffen hat, als tatsächlich eine Falllösung allein auf glasklare Rechtsnormen zu stützen. Wir werden später noch auf diesen Aspekt zurückkommen, aber Sie sollten sich bereits jetzt von der naiven Vorstellung verabschieden, dass das Recht seine Ordnungsfunktion hinsichtlich des menschlichen Zusammenlebens vollständig, zeitnah und gerecht wahrnehmen kann.

Auch ist das Ergebnis einer Abwägung widerstreitender Interessen oft nicht etwa eindeutig, sondern es kann zu einer anderen Zeit oder bei einer anderen personellen Besetzung der Richterbank durchaus abweichend ausfallen. Bestenfalls fällt die Abwägung auch objektiv messbar gerecht aus, zwingend ist dies aber nicht. Dass die Gleichung Recht = Gerechtigkeit nicht immer aufgeht, ist eine viel bemühte Binsenweisheit. Außerdem muss der Betroffene „seinem guten Recht“ auch zur Durchsetzung verhelfen. Der oft langwierige und kostspielige Gang über mehrere Gerichtsinstanzen hat jedoch schon so manchen Bürger davon abgehalten, seine Interessen ernsthaft zu verfolgen: „Wer der Gerechtigkeit folgen will durch dick und dünn, muss lange Stiefel haben“ (Wilhelm Busch).

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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