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Was ist Recht? Große Frage – kleine Beispiele

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Betrachten wir die folgenden willkürlich gewählten und fiktiven, jedoch durchaus lebensnahen Situationen:

(a) Markus behauptet, die Strecke von Hamburg nach Hannover sei 150 km lang. Claudia behauptet, die Strecke sei 100 km lang. Tatsächlich beträgt die Entfernung zwischen den beiden Städten ziemlich genau 150 km.

(b) Nachbar Meyer stellt die Stützpfeiler seines neuen Carports in einer Entfernung von 90 cm zu der Grundstücksgrenze des unmittelbaren Nachbarn Schulze auf. Die auf diesen Sachverhalt anwendbare Gemeindesatzung bestimmt in ihrem § 4: „Zwischen der Grundstücksgrenze und Bebauungen jeder Art (z. B. Zäune, Garagen, Carports) ist ein Mindestabstand von 80 cm einzuhalten. Schulze beschwert sich bei Meyer, dass dieser zu nah an seinem Grundstück gebaut habe.

(c) Ein Arbeitgeber zahlt seinen Arbeitnehmern in den Jahren 2000 bis 2016 jedes Jahr zu Weihnachten ein Weihnachtsgeld von 1000 Euro pro Person. Eine Verpflichtung hierzu aus einem Arbeitsvertrag oder einem Tarifvertrag besteht nicht. Im Jahr 2017 wird kein Weihnachtsgeld ausgezahlt. Der Arbeitnehmer Gierig besteht dennoch auf Zahlung.

(d) Ein Kindergeldgesetz bestimmt, dass ein Ehepaar pro Kind und Monat einen Anspruch gegen den Staat auf Zahlung von 100 Euro hat. Das Ehepaar Müller hat ein Kind, das Ehepaar Mertens zwei Kinder. Das Ehepaar Müller bekommt für Januar 100 Euro, das Ehepaar Mertens 200 Euro ausgezahlt. Das Ehepaar Müller beschwert sich und möchte ebenfalls 200 Euro ausgezahlt bekommen.

(e) Ein Kindergeldgesetz bestimmt, dass ein Ehepaar für das erste gemeinsame Kind pro Monat 100 Euro und für das zweite gemeinsame Kind pro Monat 50 Euro erhält (Übrigens: Gott sei Dank sind dies fiktive Beträge zur Veranschaulichung, in Wirklichkeit ist ein Kind dem Staat zumindest ein wenig mehr wert). Das Ehepaar Koch verlangt von der zuständigen Familienkasse pro Monat 200 Euro, weil es die Regelung für widersinnig hält.

(f) § 4 eines fiktiven Gesetzes zur Sicherung von Zucht und Ordnung in einem Staat lautet: „Jeglichen Aufforderungen der Polizei ist jederzeit Folge zu leisten. Eine Begründung der Polizei für die Aufforderung ist nicht erforderlich. Wer dem Befehl der Polizei nicht Folge leistet, wird unverzüglich erschossen.“

Das Recht zu erfassen, geschweige denn mit Worten zu beschreiben, ist gar nicht so einfach. Viele Wissenschaftler und Gelehrte, insbesondere aus der Philosophie und der Rechtswissenschaft, haben sich über die Jahrhunderte daran versucht. Nur so viel sei grundsätzlich für Liebhaber grauer Theorie vorweggeschickt: Die sogenannten essentialistischen Ansätze streben dabei danach, diese Fragestellung universell zu beantworten und beanspruchen damit für sich eine absolute Wahrheit. Demgegenüber versuchen die sogenannten nominalistischen Ansätze, eine handhabbare Definition des Rechts zu ersinnen, die den Rechtsbegriff für den jeweiligen Untersuchungsbereich zweckmäßig erfasst. Die Anhänger der Lehre des sogenannten Rechtspositivismus wiederum setzen das Recht allein mit den positiven, d. h. vom Gesetzgeber gesetzten oder als Gewohnheits- oder Richterrecht anerkannten Normen gleich. Sie verzichten naturgemäß auf eine inhaltliche Bezugnahme oder Parallelität zu den außergesetzlichen Rechtserkenntnisquellen (etwa göttliche Gebote, Naturgesetze, Vernunft, Idee der Gerechtigkeit, Menschenrechte, usw.).

Bei dem deutschen Philosophen Immanuel Kant beispielsweise klang das so: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist.“ Der indische Widerstandskämpfer Mahatma Gandhi hingegen formulierte: „Wenn du im Recht bist, kannst du dir leisten, die Ruhe zu bewahren; und wenn du im Unrecht bist, kannst du dir nicht leisten, sie zu verlieren“, und bei dem berühmtesten Philosophen der Niederlande, Baruch de Spinoza, hieß es: „Jeder hat so viel Recht, wie er Macht hat.“ Hoffentlich weiß Donald Trump nicht, wer Spinoza war. Da hilft, um all dies zu ertragen, nur noch Humor, der sogar, obwohl er am Lebensende depressiv war, vortrefflich bei dem deutschen Schriftsteller Kurt Tucholsky zu finden ist: „Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht hat.“ Es gibt freilich noch Dutzende weitere Sinnsprüche, ohne dass der Erkenntnisgewinn darüber, was Recht ist, zwingend größer würde.

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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