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Recht ≠ Gerechtigkeit

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Bitte beachten Sie, dass auch das Beispiel (b) nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Die Abstandsgrenze zwischen Meyer und Schulze ist weder gerecht, noch ungerecht. Sie könnte auch 50 cm oder 100 cm betragen, ohne dass sich etwas daran ändern würde. Das Nachbarschaftsrecht verlangt, wie die meisten anderen Lebensbereiche, nach objektiv messbaren Maßstäben und Kategorien. Diese werden dann durch eine Rechtsnorm festgelegt, die – wie in diesem Beispiel – auch einen neutralen Charakter haben kann. Es wäre hingegen sicher ungerecht, wenn nur Meyer, nicht aber Schulze die Abstandsgrenzen einhalten müsste, aber das ist nicht der Fall. Mit wenigen Ausnahmen richtet sich geschriebenes Recht nämlich stets an all seine Adressaten gleichermaßen. Weitere Beispiele: Die allgemeine Geschwindigkeitshöchstgrenze von 50 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften etwa gilt ohne Ausnahme für alle Menschen, die einen PKW fahren. Das Gebot, dass man nicht stehlen darf (was als Diebstahl nach § 242 Strafgesetzbuch strafbar wäre), sollte allen (!) Menschen klar sein und von ihnen beachtet werden, usw.

Im Beispiel (b) sind die Adressaten der Gemeindesatzung offenkundig alle Menschen, die Grundstücke nebeneinander besitzen und die daher Nachbarn sind. Wenn dies einmal nicht der Fall sein sollte, dann ist näher zu prüfen, ob auch wirklich gleiche Sachverhalte bzw. gleiche Adressaten vorliegen. Es mögen beispielsweise die einzuhaltenden Abstandsflächen in einer Großstadt andere sein als auf dem Land, aber dann ist die Lage der Grundstücke auch nicht vergleichbar. Es ist dann aufgrund der Raumverdichtung und der größeren Anzahl an Einwohnern pro Quadratkilometer vielmehr sachlich gerechtfertigt, dass in der Großstadt regelmäßig weniger Abstand zum Nachbarn einzuhalten ist.

Was ist vor diesem Hintergrund Gerechtigkeit? Das ist offenkundig mehr als „Fairness“, wie sie aus dem Sport bekannt ist. Der Hinweis auf den Sport würde im Übrigen auch bei denjenigen Zeitgenossen zu kurz greifen, die Sport ablehnen (denken Sie an den oben schon zitierten großen Demokraten Winston Churchill und seine berühmte Grundhaltung „No sports!“). Die Gerechtigkeit ist vielmehr der Idealzustand, nach dem eine Rechtsordnung streben sollte. Das Ziel der Schaffung von Rechtsnormen und ihre Anwendung durch Gerichte sollte vor allem an der Gerechtigkeit ausgerichtet sein, und zwar an einer Gerechtigkeit, wie sie bereits vor vielen Jahrhunderten der griechische Denker Aristoteles verstanden hat, nämlich Gerechtigkeit als Tugend, die sich auf das Individuum und seine Mitmenschen bezieht. Die so verstandene Gerechtigkeit ist auf den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen von Individuen angelegt, wobei wir uns über zwei Dinge stets bewusst sein sollten: Erstens ist in einer Demokratie Gerechtigkeit immer das Resultat eines Kompromisses, und zweitens muss die Gerechtigkeit vor dem Hintergrund des jeweiligen Zeitgeistes immer mal nachjustiert werden. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist die Summe dessen, was die meisten Menschen als erstrebenswert ansehen: Eine Rechtsordnung, die auf Gleichheit, Humanität, Solidarität, Frieden, Demokratie, Freiheit und Menschenwürde basiert.

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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