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Andere Verhaltensmaßstäbe

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Neben dem Recht gibt es noch weitere Verhaltensmaßstäbe, die unser Zusammenleben beeinflussen und bestenfalls ordnen. Da wäre zum einen die sogenannte Moral. Während das Gesetz gewissermaßen als äußerer Zwang verstanden wird, ist der Maßstab der Moral eher ein innerer. Moralische Normen werden in der Regel überliefert und entstehen durch Wertvorstellungen, familiäre Traditionen, Bräuche oder Gewohnheit im privaten Bereich, d. h. einer Gruppe von Menschen. Moralische Normen in diesem Sinne sind daher immer auch soziale Normen, die an der gegenseitigen Achtung der Menschen ausgerichtet sind.

Moralische Normen sind nicht rechtlich durchsetzbar. Wer sie missachtet, mag in gewisser Weise außerhalb der Gesellschaft stehen, was sich unterschiedlich äußern kann. Er steht aber nicht auch zwangsläufig außerhalb des Rechts und der Gerechtigkeit. Rechtsnormen können daher, müssen aber nicht mit moralischen Normen im Einklang stehen. Rechtsnormen können ein unmoralisches Verhalten ausnahmsweise gestatten, sie dürfen ein solches aber umgekehrt nicht erzwingen. Viele Rechtsnormen sind aber auch moralisch neutral, so wie beispielsweise das Rechtsfahrgebot unserer Straßenverkehrsordnung.

Ein Beispiel für eine prinzipielle Gestattung (d. h. vorbehaltlich anderer Rechtsnormen, die ggf. ein entsprechendes Verbot enthalten) eines Verhaltens ist § 40 der Abgabenordnung. Dort ist bestimmt: „Für die Besteuerung ist es unerheblich, ob das Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes ganz oder zum Teil erfüllt, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt.“ Auch Drogenhändler und Schleuserbanden müssen daher Steuern zahlen. Dies gilt im Übrigen auch für Prostituierte, die seit einigen Jahren (nämlich aufgrund geänderter Moralvorstellungen) rechtlich nicht mehr illegal tätig sind und die im Steuerrecht lustigerweise als Gewerbebetriebe eingeordnet werden. Ein Beispiel hingegen dafür, dass Rechtsnormen ein unmoralisches Verhalten nicht erzwingen dürfen, ist § 138 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“ „Nichtig“ ist typisches Juristendeutsch und bedeutet schlicht „nicht wirksam“. Ein Vertrag über Schwarzarbeit etwa wäre damit nichtig. Schwarzarbeit gilt, jedenfalls rechtlich, immer noch als unmoralisch und damit sittenwidrig.

Im Gegensatz zur Moral ist das sogenannte Gewissen kein Verhaltensmaßstab einer Gruppe von Menschen, sondern einem jeden Individuum ureigen. Das Gewissen wird gebildet aus der Summe von Verhaltensregeln, die ein Individuum für sich selbst nach seiner Prägung und Erfahrung als für sich verbindlich anerkennt. Das Gewissen wird in den meisten Fällen mit Recht und Moral Hand in Hand gehen, es sind aber auch Kollisionen denkbar. Im Fall der Kollision muss jeder einzelne Mensch für sich bewerten, ob er seinem individuellen Empfinden oder den rechtlichen bzw. moralischen Normen Vorrang einräumt. Solche Kollisionen sind unvermeidlich, auch in einem Rechtsstaat. Sie resultieren daraus, dass das Recht unvollkommen ist, dass es absolute Gerechtigkeit nicht geben kann und dass der demokratische Gesetzgeber und das Individuum naturgemäß im Einzelfall unterschiedliche, manchmal sogar unvereinbare Wertvorstellungen haben.

Das Gewissen wird durch das Grundgesetz sogar in den höchsten rechtlichen Rang erhoben, den unser Rechtstaat kennt. In Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es unter anderem, dass die Freiheit des Gewissens unverletzlich sei. Dies bedeutet freilich nicht, dass jeder Einzelne unter Berufung auf sein angebliches Gewissen Rechtsnormen missachten kann, wie es ihm beliebt. Die Vorschrift bedeutet vielmehr nur, dass niemand entgegen seinem Gewissen zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden kann. Wie die obige Diskussion um den Schießbefehl gezeigt hat, berechtigt nur ein unter allen Umständen unauflösbarer Widerspruch zwischen Gesetz und Recht dazu, dem Gesetz die Gefolgschaft zu verweigern. Wer gemäß seinem Gewissen handelt, aber das geschriebene Recht verletzt, der wird im Grundsatz auch mit den Sanktionen leben müssen.

Beispiel: Die Zeugen Jehovas lehnen aus religiösen Gründen Bluttransfusionen ab. Wird ein Zeuge Jehovas lebensgefährlich verletzt, stellt sich für den behandelnden Arzt die schwierige Frage, ob er sich dem Wunsch nach Nichtverabreichung der Transfusion beugen muss, oder ob er, gemäß seinem ärztlichen Gewissen und dem Hippokratischen Eid, die Transfusion gleichwohl verabreicht. Der heutige Meinungsstand ist: Ein Arzt darf sich über die Ablehnung einer Bluttransfusion durch Anhänger der Zeugen Jehovas nicht einfach hinwegsetzen. Bei erwachsenen Angehörigen der religiösen Gemeinschaft müsse die Verweigerung selbst dann respektiert werden, wenn dies zum Tod führe. Führt der Arzt gemäß seinem Gewissen die Transfusion dennoch durch, so macht er sich im Grundsatz strafbar.

Es gibt nur wenige Ausnahmefälle, in denen die Rechtsordnung den Vorrang des Gewissens vor dem Recht akzeptiert. Ein berühmter Schulfall, den jeder Jurist kennt, ist das sogenannte „Brett des Karneades“. Es handelt sich um einen fiktiven Sachverhalt, der dem griechischen Rechtsphilosophen Karneades zugeschrieben wird. Die Sachverhaltsbeschreibung ist denkbar einfach: Ein Schiff geht unter. Die beiden Schiffbrüchigen A und O können sich auf eine im Meer treibende Schiffsplanke retten. Diese Planke kann aber nur einen der beiden Schiffbrüchigen tragen. Daher drohen beide zu ertrinken. A stößt O deshalb von der Planke, um sich zu retten. A rettet sich auf diese Weise, O ertrinkt.

Wenn Sie glauben, lieber Leser, dies sei nur ein theoretisches Gedankenspiel, dann irren Sie. Denken Sie etwa an das Unglück des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia vor der italienischen Küste im Jahr 2012. Darf man im Ernstfall andere Passagiere beiseite stoßen, um sich den letzten Platz im Rettungsbot zu sichern (dies insbesondere dann, wenn man kurz zuvor als Kapitän erst an seiner Geliebten und dann auf seinem Handy herumgespielt hat und es so erst zur Katastrophe kommen konnte)? Hätte die US Airforce das Flugzeug, das den Terroranschlag des 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York verursacht hat, abschießen dürfen, wenn sie vorher von dem geplanten Anschlag gewusst hätte? Hat sich der verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt im rechtlichen Sinne schuldig gemacht, als er sich, stellvertretend für den Staat, im Jahr 1977 entschied, sich nicht von den Entführern des damaligen BDI-Präsidenten Hanns Martin Schleyer erpressen zu lassen, mit der Folge, dass dieser von den Geiselnehmern wie erwartet ermordet wurde? Schmidt selbst sah dies so. „Ich habe mich in Schuld verstrickt“, sagte er später.

Im rechtlichen Sinne indes hatte er Unrecht. Die entscheidende Frage geht nämlich dahin, ob sich A im Beispielsfall des Totschlags schuldig gemacht hat, und diese Frage ist nach deutschem Strafrecht im Ergebnis mit „nein“ zu beantworten. A hat zwar, indem er O von der Schiffsplanke stößt, eine vorsätzliche (d. h. absichtliche) und auch rechtswidrige (d. h. nicht durch ein Gesetz gerechtfertigte) Straftat begangen, er handelte aber ohne Schuld, mit anderen Worten: Die Tat des A ist vor dem Gesetz entschuldigt. In § 35 des Strafgesetzbuches heißt es hierzu: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld.“ Es bestand vorliegend eine gegenwärtige Gefahr für das Leben des A, denn hätte er O nicht von der Planke gestoßen, wäre er über kurz oder lang selbst ertrunken.

Ein solcher Gewissenskonflikt lässt sich auch in einem Rechtsstaat nicht befriedigend auflösen. Welches Menschenleben wiegt mehr? Wäre der Fall anders zu beurteilen, wenn A zwei Menschen von der Planke gestoßen hätte oder ein Kind dabei gewesen wäre oder A selbst todkrank war? Hätte A dann standhaft bleiben und sehenden Auges in den eigenen Tod gehen müssen? Diese Fragen lassen sich kaum beantworten, und man kann nur hoffen, sie nicht einmal eines Tages selbst entscheiden zu müssen, und dies möglicherweise noch in Bruchteilen von Sekunden, ohne das Für und Wider sorgfältig abwägen zu können.

Eine solche Situation nennt man im Strafrecht einen sogenannten übergesetzlichen Notstand oder eine schuldausschließende Pflichtenkollision (das heißt so, weil es eine Situation ist, die man anhand von durch Gesetze angeordneten Verhaltensbefehlen nicht für alle Seiten befriedigend lösen kann). Man kann A nämlich rechtlich keinen Vorwurf machen. Er hat sich selbst nicht in diese Situation gebracht, und es ist eine Situation, in der es buchstäblich um Leben und Tod geht. Es ist eine ausweglose Situation, für die auch die Gerechtigkeit keine Antwort parat hat. Egal, ob A oder O den Tod findet oder finden sollte, das Ergebnis ist und bleibt ungerecht.

Der dritte Verhaltensmaßstab, nach dem viele Menschen handeln, ist die Ethik. Die Ethik definiert ebenfalls Maßstäbe für das Verhalten des Menschen, allerdings nicht aus sich selbst heraus, sondern auf Basis einer bestimmten Lehre. So hat beispielsweise die christliche Ethik das Recht in vielfältiger Weise beeinflusst, wenn man beispielsweise an die Menschenrechte denkt. Auch die rechtlichen Diskussionen etwa um den Schwangerschaftsabbruch oder die Hilfe zur Selbsttötung sind durch ethische Standards bereichert worden. Die Erkenntnisse der Ethik strahlen oft auch auf die Rechtsetzung aus.

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

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