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Оглавление9. Mutterliebe ist konkret
Schwangere Frauen werden als „werdende Mütter“ bezeichnet. Das ist nicht richtig. Sie sind bereits während der Schwangerschaft Mutter für das Kind in ihrem Bauch. Zumindest die Arbeitsschutzgesetze tragen diesem Umstand Rechnung. Die grundsätzliche Frage von Anfang an ist jedoch nicht nur eine des Mutterschutzes, sondern: Ist eine Frau überhaupt bereit und fähig, die Liebe anzunehmen, die ihr Kind ihr entgegenbringt und die es von ihr einfordert?
Mutterliebe ist nichts Abstraktes und kann nicht nur in der Vorstellung existieren. Sie zeigt sich ganz konkret in dem jeweiligen Moment, wenn ein Kind sie braucht. Z.B. in der Art, wie sich seine Mutter in der Schwangerschaft ernährt, ob sie Medikamente oder Drogen konsumiert, wie sie weiterhin Sex hat, wie sie arbeitet, ob sie grundsätzlich Rücksicht auf das ungeborene Kind in ihrem Bauch nimmt, ob sie überhaupt Kontakt mit ihm aufnimmt oder nicht.
Mutterliebe beweist sich bei der Geburt, wenn die Mutter mit dem Kind aktiv zusammenarbeitet, um die Geburt zu einem Glücksmoment und einer herzlichen Willkommensgeste für ihr Kind zu machen.14 Oder ob sie sich passiv dem Geburtshilfesystem ausliefert und sich im Extremfall das Kind aus ihrem Bauch pressen, ziehen oder schneiden lässt. Die Rate von 30% und mehr Kaiserschnittgeburten lässt sich durch extreme Notfälle alleine nicht erklären. Sie ist hausgemacht durch ein medizinisches Geburtshilfesystem und Mütter und Väter, welche der Entwicklung der menschlichen Psyche nicht den Stellenwert einräumen, den sie für ihr Kind von Anfang an hat.15
Es ist konkrete Mutterliebe, wenn die Mutter gleich nach der Geburt ihr Kind an ihrem Körper wärmt, ihm liebevoll in die Augen schaut und ihm erste zärtliche Berührungen gibt. Wenn sie ihrem Kind sofort ihre Brust zur Verfügung stellt, damit das Kind daraus die auf seine spezifischen Bedürfnisse abgestimmte Muttermilch trinkt und sich an die warme Haut seiner Mama anschmiegen kann.16 Diese hautnahe Liebe fehlt einem Kind, wenn es sofort mit Babynahrung und Flasche gefüttert wird.17 Auch Frauen berichten darüber, dass sie sich schlecht fühlen, wenn sie das Kind nicht selbst aus ihrer Brust trinken lassen können und die Milch daraus abpumpen müssen.
Wenn eine Mutter keine körperlich-emotionale Bindung an ihr Kind entwickelt, fällt ihr auch das Stillen schwerer. Dem Kind fehlt damit nicht nur die kindgerechte Nahrung in seinem ersten Lebensjahr, sondern auch der liebevolle Körperkontakt mit seiner Mama, falls diese beim Fläschchen geben nicht ausdrücklich auf einen intensiven Körperkontakt mit ihrem Kind achtet.
Aus welchen Gründen eine Mutter ihr Kind nicht stillen will oder kann (z.B. weil Mutter und Kind in einem Krankenhaus sofort nach der Geburt getrennt werden oder weil eigene sexuelle Missbrauchserfahrungen die Frauen davor zurückschrecken lassen, ihrem Kind ihre Brust anzubieten), ist für ihr Kind gleichgültig. Im fehlt etwas, was ein Kind qua seiner Natur gerne haben möchte und für seine gesunde körperliche wie psychische Entwicklung dringend braucht.
Mutterliebe heißt weiterhin konkret: Das Kind zärtlich liebkosen, streicheln, mit beruhigender Stimme zu ihm sprechen, den Lauten des Kindes lauschen, das Kind in Ruhe lassen, wenn es das möchte, es zum Spielen anregen, mit ihm kuscheln, ihm Geschichten vorlesen usw. je nach dem Alter und der Bedürfnislage des Kindes.
Das Kind zu lange alleine zu lassen, ihm keine gute Nahrung zu bereiten, es abzuweisen, wenn es Kontakt will, es nicht als dieses besondere Kind wahrzunehmen, das es ist, es nicht vor den Zudringlichkeiten und Übergriffigkeiten anderer Personen zu schützen - all das sind Momente fehlender Mutterliebe und mangelnder Empathie. Nach der Geburt weinen allein gelassene Kinder zunächst wegen dieser fehlenden Mutterliebe, dann schreien sie, schließlich versteinern und verstummen sie. Sie implodieren, sie reduzieren sich immer mehr, machen sich unsichtbar und leer.
Auch hier ist es für das Kind egal, aus welchen Gründen seine Mama - weil sie nach der Geburt gleich wieder arbeiten geht oder weil sie depressiv ist - es alleine lässt, in Fremdbetreuung gibt oder wenig Zeit für es hat. Es fühlt sich schlicht alleine und im Stich gelassen und leidet enorm darunter. Sein Kummer und sein Schmerz sind so groß und überwältigend, dass es sich psychisch aufspalten muss, um daran nicht zugrunde zu gehen.
Reale Mutterliebe befriedigt also situationsangemessen die symbiotischen wie autonomen-Bedürfnisse des Kindes in seinem jeweiligen Lebensalter (siehe Abbildung 2 und 3).
SYMBIOTISCHE BEDÜRFNISSE
▪ genährt werden
▪ gewärmt werden
▪ Körperkontakt haben
▪ gehalten werden
▪ gesehen werden
▪ verstanden werden
▪ unterstützt werden
▪ zusammen gehören
▪ willkommen sein
Abbildung 2: Konkrete Mutterliebe heißt:
Die symbiotischen Bedürfnisse des Kindes situations- und altersangemessen zu befriedigen
„Symbiose“ heißt zusammenleben. Es bedeutet nicht, dass Mutter und Kind eins wären. Mutter und Kind sind von Anfang an eigene Lebewesen.18 So wie im günstigen Falle eine Mutter die Symbiose- und Autonomiebedürfnisse des Kindes fördert, so unterstützt auch das Kind die Entwicklung seiner Mutter, zu einer immer reiferen, erwachsenen Person zu werden.
AUTONOMIEBEDÜRFNISSE
▪ selbst wahrnehmen, fühlen, denken
▪ eigenständig sein
▪ in sich selbst Halt finden
▪ etwas selbst machen
▪ unabhängig sein
▪ frei sein
▪ selbst entscheiden
Abbildung 3: Konkrete Mutterliebe heißt:
Die Autonomiebedürfnisse eines Kindes situations- und altersangemessen zu unterstützen
Wenn ich in Therapien frage, was sich jemand als Kind von seiner Mutter am meisten wünscht, kommt häufig die Antwort: Ich will von ihr gesehen werden. Der amerikanische Entwicklungspsychologe Edward Tronick hat dazu ein aufschlussreiches Experiment durchgeführt. Er bat Mütter, im Kontakt mit ihrem Kind plötzlich ein ausdrucksloses Gesicht („still face“) zu machen, sich quasi eine Gesichtsmaske aufzusetzen. Sofort waren die Kinder irritiert, wurden unruhig, begannen zu weinen und bereits nach einer Minute waren sie völlig außer sich, so dass das Experiment abgebrochen werden musste, um dem Kind nicht zu schaden. Die fehlende Interaktion mit der Gesichtsmimik ihrer Mutter brachte sie an den Rand des psychischen Zusammenbruchs.19
13 Bei Vögeln z.B. reift das befruchtete Ei nicht im Bauch einer Vogelmutter, es wird von dieser von außen bebrütet. Meeresschildkröten legen ihre Eier in den Sand und überlassen den Vorgang der Bebrütung der Sonne.
14 Strauss, D. (2014). Abnabelungs- und Wiederanbindungsprozess als letzte Phase der Geburt. In Franz Ruppert (Hg.), Frühes Trauma (S. 175-191). Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
15 Mundlos, C. (2015). Gewalt unter der Geburt. Der alltägliche Skandal. Marburg: Tectum Verlag.
16 Gresens, R. (2016). Intuitives Stillen. München: Kösel Verlag.
17 Wer schon mal auf einem Bauernhof die traurigen Augen der Kälbchen gesehen hat, denen verwehrt wird, die Milch ihre Mutter zu erhalten, kann vielleicht erahnen, wie es auch den Menschenbabys in einer solchen Situation geht.
18 Ruppert, F. (2010). Symbiose und Autonomie. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.