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Оглавление2. Die menschliche Psyche
Meine Antworten zu den gestellten Fragen kreisen in erster Linie um die menschliche Psyche und ihre Entwicklung. Meine Grundannahme ist: Wenn sich die Psyche eines Menschen gesund entfalten kann, dann gelingt ihm ein gutes Leben und Zusammenleben mit seinen Mitmenschen. Wird eine menschliche Psyche hingegen früh beschädigt, sieht es nicht gut aus - weder für den Einzelnen noch für ganze Gesellschaften.
WAS MEINT „PSYCHE“?
Die Psyche ist ein Informationsverarbeitungsprinzip. Alle Lebewesen haben die für sie passende Psyche, ob als Baum, Ameise, Fisch, Katze oder Mensch. D.h. ein lebendiger Organismus nimmt Informationen von außen auf, verarbeitet sie innerlich weiter, speichert davon ab, was für ihn wichtig ist, und setzt die für seine Bedürfnisse aufbereiteten Informationen in seine Vorhaben, Bewegungen und Handlungen um.
Die Vorstellung, dass die Funktionen der Psyche an ein Gehirn oder ein Nervensystem gebunden seien, ist unzutreffend. Jede Zelle ist ein lebendiger Organismus bestehend aus Materie, Energie und der Möglichkeit der Informationsverarbeitung. Alle lebendigen Zellen verfügen auch über eine Psyche und können aus ihren Erfahrungen lernen.4 Komplexe Zellstrukturen können auch komplexe Formen von Psyche und damit differenzierte Erkenntnisprozesse hervorbringen.
PSYCHOLOGIE
Zur Besonderheit der menschlichen Psyche gehört es, dass sie sich ihrer selbst bewusst werden kann. Menschen sind prinzipiell in der Lage, sich selbst zu erkennen. Wir Menschen sind mit unserer Psyche sogar dazu fähig, „Psychologie“ als Wissenschaft zu betreiben. Das bedeutet, dass an Psychologen eine besondere Anforderung besteht, sich selbst zu erkennen. Wer sich selbst nicht versteht, wird auch seine Mitmenschen nicht begreifen können.
IDENTITÄT
Menschen können sich mit ihrer Psyche die Frage stellen: Wer bin ich? Wozu lebe ich? Daher gehört der Begriff der Identität zu den wichtigsten Grundkategorien meiner psychologischen Theorie. Identität definiere ich als Summe aller Lebenserfahrungen, die ein Mensch von Beginn seines Lebens an macht. Seine Lebensgeschichte, seine eigene Biografie ist der Kern seiner Identität.
Auf eine Formel gebracht heißt das:
Ich = Ich
Rechts und links von diesem Gleichheitszeichen steht nur der jeweilige Mensch: Ich bin der, der ich bin. Jeder Mensch ist in diesem Sinne einzigartig und unterschiedlich von allen anderen Menschen.
IDENTIFIKATION.
Vom Begriff der Identität ist der Begriff der Identifikation zu unterscheiden. In diesem Falle identifiziert sich jemand mit etwas, was außerhalb seiner selbst existiert. Das kann eine andere Person sein oder eine Gruppe, zu der er sich zugehörig fühlt (z.B. den Deutschen, den Christen, den Anhängern eines Sportvereins, die Mitglieder einer Partei oder Berufsgruppe etc.). Menschen identifizieren sich oft auch mit dem, was sie besitzen: ihr Haus, ihr Auto, ihre Kleidung, ihr Smartphone …
Formelhaft ausgedrückt heißt Identifikation:
Ich = Du oder Ich = Wir oder Ich = eine Sache
Identifikationen bedeuten nicht per se eine Aufgabe der eigenen Identität. Beim Erlernen der Sprache z.B. identifizieren sich Kinder automatisch mit der Sprache der Mutter, ihrem Akzent, ihrem Tonfall. Hier kann man auch eher von „Imitation“ und Nachahmen sprechen. Generell sind die Eltern für ihre Kinder die Vorbilder, denen sie etwas nachmachen - gemäß der alten pädagogischen Weisheit: „Hört auf Eure Kinder zu erziehen, sie machen Euch sowieso alles nach.“ „Lernen am Modell“ nennt die Verhaltenspsychologie das.
Identifikationen können aber auch dazu dienen, von sich selbst und dem Fehlen eines eigenen Ichs und Wollens abzulenken und die eigene innere Leere mit etwas zu bedecken, was von anderen anerkannt und bewundert wird. Das führt dazu, dass manche Menschen oft mehr scheinen als sie sind. Dass sie in den Augen der anderen als erfolgreich dastehen, weil sie eine Familie, ein Haus, ein Auto oder einen angesehenen Beruf haben. Oder dass sie mit den „angesagten Leuten“ in Verbindung stehen gemäß der narzisstischen Formel: Ich bin deutend, weil ich mit bedeutenden Menschen verkehre. Tatsächlich sind sie jedoch zutiefst selbstunsicher, die Funktion ihres gesunden Ichs ist wenig entwickelt und auf sich alleine gestellt sind sie kaum fähig zu wissen, wer sie sind und was sie wollen.
Wie sehr also stehe ich hinter all dem, mit dem ich mich identifiziere? Was gebe ich dafür von mir auf um dazuzugehören? Wie sehr verrate ich mich selbst dafür? Habe ich mich dafür frei entschieden oder handele ich vor allem aus meinen Einsamkeitsgefühlen und Verlassenheitsängsten heraus, weil ich aufgrund meiner kindlichen Not mein Ich und meinen freien Willen schon früh aufgeben musste, um zu überleben?
In der Alltagspsychologie wird der Begriff der Identität häufig mit dem Begriff der Identifikation gleichgesetzt. Daraus ergeben sich dann heillose Diskussionen und Streitereien, was denn nun z.B. typisch deutsch oder ein typischer weißer Mann sei. Nationalisten und sozialistische Globalisten können sich hier trefflich in die Haare geraten.5 Wer seine Identität mit Identifikation gleichsetzt, landet zwangsläufig beim Gruppendenken und dem Bemühen, sich abzugrenzen von Menschen, die anders sind: „Wir Frauen sind …“, „Die Migranten sind …“, „Die Rechtsradikalen sind …“. Er sucht nach der Gruppe, zu der er sich zugehörig fühlt, was zugleich bedeutet, sich abzugrenzen von denen, die nicht zu dieser Gruppe gehören. So entstehen kommunikative und aktionale Echokammern. „Man“ unterhält sich nur noch mit denen, die auch zur eigenen Gruppe gehören und redet über „die anderen“, die eben anders sind als „wir“. Man bleibt unter sich. Und am liebsten gehört „man“ natürlich zu denen, die gut und fortschrittlich sind und grenzt sich von denen ab, die vermeintlich böse, rückständig, spießig, konservativ, rechtsradikal, antisemitisch etc. sind. Diese „anderen“ sehen es möglicherweise genauso, bloß umgekehrt.
Am besten scheint es in diesem Identifikationsmodus auch zu sein, wenn man die Sicherheit hat, zur „Mehrheit“ zu gehören und nicht zu einer „Minderheit“, die sozial am Pranger steht. Neben der Angst, nicht dazuzugehören, spielt meist auch die Scham eine große Rolle, nicht richtig zu sein und den Erwartungen der anderen nicht zu genügen. Im Grunde handelt es sich bei all dem um einen illusionären symbiotischen Zustand, der eine Gemeinsamkeit vorspielt, die praktisch nicht existiert. Die tatsächlich vorhandenen Unterschiede und Gegensätze werden ausgeblendet und mit scheinbaren Gemeinsamkeiten zu überspielen versucht.
ZUSCHREIBUNGEN
In solchen symbiotisch verstrickten Beziehungssystemen ist es weit verbreitet, dass Menschen versuchen, anderen eine Identität dadurch zu geben, was sie ihnen etwas zuschreiben und sie damit labeln. Solche Zuschreibungen geschehen immer in einer gewissen Absicht. Sie dienen sowohl der symbiotischen Vereinnahmung („Du gehörst mir! Du bist mein Mann, meine Frau, mein Kind!“) als auch der symbiotischen Ausgrenzung („Du bist ein Ausländer und gehörst nicht hierher!“).
Auf eine Formel gebracht bedeuten Zuschreibungen:
Du = Ich oder Du = Wir oder Du = eine Sache
Zuschreibungen geschehen u.a. durch
▪ Namensgebung („Unser Kind soll einen muslimischen/christlichen/jüdischen Namen tragen.“),
▪ Notengebung („Hans ist ein Einser-Schüler!“),
▪ bewertende Aussagen („Das Kind will mich nur ärgern!“),
▪ das Stellen einer medizinischen Diagnose („Sie haben Krebs. Jetzt müssen sie eine Chemotherapie machen!“ „Maria ist schizophren, daher muss sie jetzt mit Psychopharmaka behandelt werden.“),
▪ die Verleihung einer Staatsbürgerschaft („Sie sind jetzt deutscher Staatsbürger.“) oder
▪ die Gesetzgebung („Herr Meier oder Firma XY ist eine juristische Person.“).
Das Wörtchen „Wir“ wird bei Zuschreibungen also entweder als vereinnahmendes „Wir alle“ oder ausgrenzendes „Wir sind anders als die anderen“ verwendet. Ob das zu Gunsten der Menschen ist, denen Zuschreibungen gemacht werden, ist eher zweifelhaft. Die Privilegien, dazuzugehören, müssen meist teuer bezahlt werden, vor allem durch das Befolgen von Regeln, die von denen aufgestellt werden, die diese Sonderrechte verteilen können. Der Entzug der Vorrechte ist das Druckmittel, damit diese Vorgaben folgsam eingehalten werden. Für die persönlichen Autonomiebedürfnisse und die Möglichkeit, ein eigenes Ich mit einem freien Willen zu leben, wird es dann eng.
Besonders wenn jemand durch Zuschreibungen ausgegrenzt wird, kann das sehr schmerzhaft oder sogar lebensbedrohlich für ihn sein. Einem Kind das z.B. in seinem Klassenverband gemobbt wird, weil es angeblich „anders“ ist, geht es sehr schlecht. Es denkt möglicherweise sogar an Selbstmord.
ICH
Im Rahmen meiner Psychologie ist das gesunde Ich die wesentliche psychische Größe. Das gesunde Ich definiere ich als den Referenzpunkt für alle anderen psychischen Prozesse in einem lebendigen menschlichen Organismus. Fehlt dieser zentrale Bezugspunkt, kommt die innere, psychische Einheit in einem Menschen nicht zustande. Sein Leben verläuft so ohne einen inneren Kompass einmal in die eine und dann in die andere Richtung. Es wird ziellos, planlos und daher von außen leicht zu beeinflussen und zu steuern.
DER WILLE
Unser Wille gibt uns die Möglichkeit, Ziele zu verfolgen und auch gegen innere und äußere Widerstände dabei zu bleiben. Ohne ein Ich hat jedoch unser Wille keine klare Orientierung. Da ein menschlicher Organismus immer verschiedene Bedürfnisse gleichzeitig hat, gibt es im Alltagsleben ohne das gesunde Ich keine eindeutige Instanz, welche bei dieser Bedürfniskonkurrenz entscheidet, was zu tun oder zu lassen ist: Soll ich z.B. gleich etwas essen oder lieber zuvor diesen Text zu Ende schreiben?
GESUNDE PSYCHE
Das übergeordnete Ziel meiner therapeutischen Arbeit ist es, dass Menschen sich die Frage stellen und auch beantworten können: Wer bin Ich und was will Ich in meinem Leben? Das können sie am besten dann, wenn sie über eine gesunde Psyche mit einem stabilen Ich-Kern und einem freien Willen verfügen. Dann sind sie auch in einem guten Kontakt mit ihren Selbstheilungspotentialen. Eine gesunde Psyche kann unterscheiden zwischen
▪ Ich, Du und Wir,
▪ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,
▪ Wahrnehmungen und Projektionen,
▪ Innen und Außen,
▪ konkreter Liebe und unerfüllbaren Sehnsüchten,
▪ Sinneslust und sexuelle Gier,
▪ Realitäten und Illusionen,
▪ Machbarem und Unerreichbarem,
▪ Leben, Überleben und Tod.
Eine gesunde Psyche trägt den Maßstab der Wahrheit und Wahrhaftigkeit in sich. Sie will frei sein, die eigene Lebendigkeit, die eigenen Bedürfnisse und die eigenen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Sie ist dialogbereit und kommunikationsoffen. Sie ist in sich glücklich und wünscht anderen Menschen ebenfalls dieses Glück. Sie bildet die Grundlage dafür, mit anderen Menschen konstruktive Beziehungen zu führen.
TRAUMATISIERTE PSYCHE
Wenn eine menschliche Psyche durch Lieblosigkeit, Vernachlässigung und Gewalt traumatisiert wird, verliert sie diese grundlegenden Fähigkeiten, an der Realität orientiert zu sein und einem Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie wird zu einer traumatisierten Psyche, die ihren inneren Zusammenhalt verliert und in sich gespalten wird. Sie fragmentiert und zerfällt dann in drei Substrukturen (siehe Abbildung 1):
Trotz der Traumatisierung gibt es zum Glück weiterhin gesunde psychische Anteile,hinzu kommen jedoch psychische Anteile im traumatisierten Ausnahmezustand, sowie Trauma-Überlebensreaktionen und -strategien, die aus der unerträglichen Realität flüchten müssen und sich deshalb in einem chronischen Stresszustand befinden.
Abbildung 1: Die traumatisierte Psyche
Ein besonders problematisches Merkmal einer traumatisierten Psyche besteht darin, dass sie die Selbsterkenntnis abwehrt, einen traumatischen Schaden erlitten zu haben. Sie rettet sich stattdessen in eine Welt voll von Illusionen. Bei der Frage „Wer bin Ich“ flüchtet sie sich in Identifikationen (Ich bin Deutscher! Ich bin Arzt! Ich bin für XY!) und lässt Zuschreibungen (z.B. Krankheitsdiagnosen) ohne Widerstand über sich ergehen. Sie ist auf das Außen fixiert, verliert sich im assoziativen, monologischen Reden, im blinden Aktionismus und im sinnlosen Streiten und Kämpfen.
Traumatisierte Menschen erleben sich selbst und ihre Mitmenschen als ein großes Problem. Sie vertrauen niemandem und verstecken sich hinter dicken inneren Schutzwällen. Sie betäuben sich mit Drogen, Medikamenten und süchtigen Verhaltensweisen. Sie meinen, wie sich selbst auch andere immerzu kontrollieren und überwachen zu müssen. Sie befördern mit all ihren Handlungen täglich ihr eigenes Unglück und bereiten ihren Mitmenschen viel Stress.
Generell kann man sagen: Wer sich selbst nicht versteht, versteht auch seine Mitwelt nicht. Wer sich selbst quält, quält auch andere.
HOHES LEBENSRISIKO
Eine gespaltene Psyche ist nur schwer zu handhaben. Sie gleicht einem Auto, bei dem die Lenkung, das Gas- und das Bremspedal nicht mehr richtig funktionieren. Gaspedal und Bremse werden von den unterschiedlichen Anteilen in dieser Psyche oft gleichzeitig betätigt. Selbst wenn ein Reifen platt ist, merkt das sein Besitzer nicht und tauscht diesen nicht aus, sondern fährt einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Hingegen kann er sich hingebungsvoll darum bemühen, kleine Kratzer im Lack der Karosserie auszubessern, damit von außen alles schön aussieht. Weitere Unfälle = Traumata sind durch die Fahrten mit so einem Auto vorprogrammiert.
Menschen mit einer traumatisierten Psyche sind damit ein beständiges Lebensrisiko für sich selbst wie für andere. Sie können ihr eigenes Leben und ihre Gesundheit nicht gut schützen und stellen für andere eine potentielle Lebensgefahr dar. Daher wäre nichts dringlicher geboten, als diese Psyche wieder in die Heilung zu bringen und den Vorgang ihrer Entmenschlichung zu stoppen. Grundsätzlich müsste es eine vordringliche gesellschaftliche Aufgabe sein, alles Mögliche dafür zu tun, damit Menschen nicht psychisch traumatisiert werden, sondern ihr volles schöpferisches Potential leben können.
3 https://schreibenbefluegelt.wordpress.com/2017/10/22/die-fragen-lieb-haben-rilke/ abgerufen am 5.5.2021
4 https://www.pnas.org/content/118/10/e2007815118 abgerufen am 24.3.2021
5 Unger, R. (2021). Der Verlust der Freiheit. München: Europa Verlag.