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Das Strafverfahren – und die Diskussion über Dagmar Overby

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Am Donnerstag, den 2. September 1920, klingelte eine junge Frau an Dagmar Overbys Tür. Sie hatte Overby einige Tage zuvor ihr Kind anvertraut, bereute ihren Entschluss aber jetzt und wollte das Kind zurückhaben. Dagmar Overby öffnete nicht, und so machte die Frau sich auf den Weg zur nächstgelegenen Polizeiwache, die sie jedoch unverrichteter Dinge wieder verlassen musste, da man hier genauere Informationen verlangte. Daraufhin ging die Frau wieder zu Overby, die sie dieses Mal zu Hause antraf. Auf hartnäckige Nachfrage erklärte Overby, sie habe das Kind an eine ihr fremde Frau weitervermittelt. Das ließ die Alarmglocken schrillen, und nun konnte die Polizei überzeugt werden, die Wohnung zu durchsuchen, wobei man unter anderem die Überreste des Kindes der Frau im Kachelofen fand. Damit kam eins der größten und spektakulärsten Strafverfahren im ersten Teil des 20. Jahrhunderts in Gang.

Im Verfahren gegen Dagmar Overby ging es insbesondere um zwei Fragen: Warum hatte sie die vielen Kinder ermordet und wie war es möglich gewesen, dass die Taten bis dahin unentdeckt blieben waren? Diese Fragen waren nicht so einfach zu beantworten. Was die erste Frage betrifft, ist die Vermutung naheliegend, dass sie es aus ökonomischen Gründen tat. Sie erhielt das Geld, hatte aber keine Ausgaben, um die Kinder zu versorgen. Das bestritt Dagmar Overby und behauptete hingegen – was interessant war -, sie habe ab und zu Lust verspürt, einige der Kinder zu töten. Sie unterstrich, sich an die eigentlichen Morde nicht erinnern zu können, da sie unter dem Einfluss verschiedener Substanzen wie Äther und Kokain gestanden habe – was erklärt, warum sie in einigen Fällen geradezu schlampig mit den Leichen umging, indem sie diese auf dem Speicher oder in dem Korb am Fußende ihres Bettes versteckte.

Wie dieses achtlose Verhalten mit Dagmar Overbys sorgfältiger Fälschung von Totenscheinen und dem Austausch von Kindern in Einklang zu bringen ist, stellt noch immer ein Rätsel dar. Heute würde man Dagmar Overby eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit Borderline-Symptomen attestieren. Das heißt, sie litt unter erheblichen emotionalen Schwankungen und ließ sich immer wieder auf kurzfristige und sehr problematische Beziehungen mit Männern ein – mit denen sie nebenbei bemerkt nur sehr selten sexuellen Kontakt hatte, da sie nach eigener Aussage jede Form sexueller Entfaltung verabscheute. Die Männer charakterisierten sie als „sehr streitbar“ und „steif wie ein Brett.“

Dagmar Overby war ganz unbestreitbar eine Person mit besonders schweren Persönlichkeitsstörungen, aber war sie böse und alleinschuldig an den Verbrechen, die sie begangen hatte? Über diese Frage entbrannte natürlich auch schon damals eine öffentliche Debatte, und schon damals gab es keine eindeutige Antwort. Ihr Verteidiger führte aus, nicht Dagmar Overby, sondern die brutale und rücksichtslose Gesellschaft trage Schuld an den Morden. Um diesen Ansatz nachvollziehen zu können, müssen wir uns die Gesellschaft zu Anfang des 19. Jahrhunderts genauer anschauen.

Von 1911 bis 1921 war es in Dänemark zu einer wahren Bevölkerungsexplosion von 2,7 Millionen auf 3,3 Millionen Einwohner gekommen. Die großen Städte waren von Überbevölkerung geprägt, und hinsichtlich der Registrierung der vielen neuen Bewohner konnte man ganz einfach nicht Schritt halten. Damit war die Wahrscheinlichkeit hoch, durch das zu dieser Zeit ohnehin nicht allzu dicht geknüpfte behördliche Sicherheitsnetz schlüpfen zu können. Neben dem enormen Bevölkerungswachstum spielte die historisch bedingte Stigmatisierung unehelicher Kinder eine Rolle. Die protestantisch geprägte Sozialgesetzgebung unterschied in diesem Zusammenhang zwischen würdig und unwürdig Bedürftigen. Frauen, die Kinder außerhalb der Ehe bekamen, galten – infolge eines Gesetzes aus dem Jahr 1803 – als unwürdig Bedürftige und konnten daher keine Sozialleistungen für ihre Kinder beziehen, es sei denn, die Kinder wurden in Pflege gegeben. Das war der Hintergrund für den großen, illegalen 'Kindermarkt', der über Annoncen in den Zeitungen abgewickelt wurde. Mit der Verurteilung Dagmar Overbys wurde diese Gesetzgebung kritisch beleuchtet, und 1923 verabschiedete man ein Gesetz über die Beaufsichtigung von Pflegekindern sowie 1924 ein Gesetz über ein Melde- und Personenstandsregister.

Auf diese Weise wurde Dagmar Overby in vielerlei Hinsicht zum Prügelknaben für soziale Sünden ihrer Epoche, aber machte sie das zu einem willenlosen Werkzeug der gesellschaftlichen Verhältnisse? Keinesfalls! Während der Gerichtsverhandlung zeigte sie starke emotionale Schwankungen und stellte sowohl moralische als auch religiöse Grundwerte in Frage – und gestand weit mehr Morde, als ihr nachgewiesen werden konnten. Sie wurde zum Tod verurteilt, doch später begnadigt und das Urteil in lebenslange Haft unter der Voraussetzung umgewandelt, dass sie nie wieder in Freiheit kommen und keinerlei Privilegien zugesprochen bekommen sollte. Während des Gefängnisaufenthalts entwickelte Dagmar Overby eine schwere Psychose und wurde ins St.-Hans-Krankenhaus gebracht. Sie starb 1929 in der Haftanstalt Vestre Fængsel.

Die größten Kriminalfälle Skandinaviens - Teil 2

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