Читать книгу Allgemeinbildung in der Akademischen Welt - Gerd Breitenbürger - Страница 17
2.1.3 Bildung ist holistisch und lebt von der Freiheit
ОглавлениеIm Folgenden soll divagierend (umschweifend) über "Bildung" nachgedacht werden, um keinen verbiesterten, das heißt kanonischen Inhalt mit diesem Begriff zu verbinden. Vom Thema dieses Buches her ist der Begriff "Bildung" zentral, denn mit seiner Ungenauigkeit ist er ein idealer Naturschwamm, der Artifizielles und Natürliches aufzusaugen bereit ist. Geist und Natur lassen sich verbinden, wie der Geist nicht ohne die Materie denkbar ist. Aber man sollte sich grundsätzlich nur wohl fühlen, wenn man in der Lage ist, neben einen abstrakten Satz möglichst einen Satz oder ein Bild zu stellen, die den praktischen Beleg liefern. Selbst wenn es in der christlichen Kosmologie heißt, "Am Anfang war das Wort", gibt es schließlich einen Beleg dafür, dass der Geist mit der Materie verbunden gedacht wird: Der Geist, der über den Wassern schwebt (siehe Genesis), was nicht einmal eine kühne Metapher sein muss.
Das Materielle als Basis des Geistigen findet sich allenthalben. Die Frage ist nur, ob es auch determinierend ist. Man könnte es ja als Zumutung ansehen und die Soziologen sehen es auch so, dass gerade eine fortschreitende materiell begründete Individualisierung unseres Lebens unsere persönliche soziale Zwangslage verschärft. Da hatten und haben wir also noch etwas zu verlieren. Ein Maschinchen, das sich selbst umbaut, damit es besser funktioniert und immer älter dabei aussieht. Ein Prozess, der auch die Inhalte und Strukturen dessen, was wir Bildung nennen, determinierend verändert, obwohl gerade sie ein geistiges Bollwerk gegen unliebsame Entwicklungen sein müsste.
Wir müssten eigentlich verlangen, dass die Gesellschaft uns sehr gewissenhaft darlegt, wozu Vorschriften und ihre Dynamik uns nötigen dürfen, die wir nicht unbedingt gewollt haben und die von außen an uns herangetragen werden. Schließlich, warum sie alternativlos uns ein Leben vorschreiben können, wo es doch Alternativen gibt, die jenseits des Anarchismus-Verdachts liegen. Wenn es einen Kanon gibt, eine verbindliche Sammlung, sollte man immer fragen dürfen: Warum gibt es ihn so, wie er ist. Wenn im vierten Jahrhundert n. Chr. die Christen der Meinung sind, dass 27 in griechischer Sprache verfassten Schriften den "Kanon des Neuen Testamentes" bilden, dann ist die nötige Übereinstimmung erbracht. Regeln oder Vorschriften können so gebündelt werden, dass sie als Kanon den nächsten Schritt machen, nämlich den in die Verbindlichkeit. Und genau die lässt sich immer hinterfragen, ist nicht sakrosankt.
So wie Behauptungen ja auch aufgrund ihrer Form die Begründung herausfordern: Wer darf wen nach Ostasien schicken: "Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt." Wer hat ein Interesse daran. Geht es auch anders. Ist der zu übernehmende Kanon nicht immer auch der, der mein individuelles Profil berücksichtigen soll. Kanon, Normen und Regeln müssen konsensfähig sein, salopp gesagt, dürfen nicht völlig bestimmt werden von den Determinanten der Epoche, von der Gesellschaft, der Partei oder der Familie, sondern auch vom Einspruch der Minorität selbst.
Der moderne Mensch hat sich seine Rollen nicht einmal erfunden, die er auszufüllen hat. Die subversiven Überlegungen, wie rette ich meine Freiheiten, ist dem aufgeschreckten Individuum und der Belastbarkeit seines Gewissens und seines Mutes selbst überlassen. In diesem Areal liegt ein Großteil dessen, was persönliche Daseinsgestaltung ist und als solche empfunden wird. Die Umstände nötigen mich dies tun, wie kann ich aber nach eigenen Vorstellungen handeln. Für den Soziobiologen gar nicht möglich, nicht einmal in der Illusion, also nicht einmal im Traum. So muss man das sehen: Erst, wenn der Mensch keine Alternativen zu seinem Leben sieht, hat er begriffen, dass er nach Meinung der Neurophysiologen nie eine andere hatte. Wahl, auch Qual der Wahl, wird vom Determinismus durchgestrichen. Wenn es heißt, die Demokratie lebt von Alternativen, müsste sie in den Augen des Neurophysiologen mausetot sein. Einen Rest, ein Delta (Abweichung) bezeichnet sie schon mal geheimnisvoll als "Sahnehäubchen", der Mensch als geschickter Resteverwerter seiner Freiheit, eine nicht bewertete Konzession. Für den Frosch auf der Sahne ist alles Butter. Er muss nur die Ausdauer besitzen, bis zum Morgen zu strampeln. Bildung sollte eine freie Einstellung voraussetzen und zu mehr Freiheit führen, denn sie hat etwas eminent Aufklärerisches. Man kann sich über einen Steuertarif, über Pilze und ihre Fortpflanzung aufklären lassen, über galaktische Hochzeiten und auch über die ungeahnten Düfte des Frühlings, die eben Freiheit beschwören, aber das sind Dinge, die vor jeder Bildung liegen. Es könnte immerhin sein, dass sie den Geschmack wecken, Unpraktisches an sich heranzulassen. Man kann Bildung kennen lernen, indem man aus der Mottenkiste ewige Werte hervorholt, Liebe wie im Mittelalter und nun als eine eigene Entdeckung. Der Mensch sei das Maß aller Dinge, der Homo-mensura-Maßstab, eine Beobachtung, die 2000 Jahre alt ist. Man kann sie für bare Münze nehmen, oder auf der Metaebene diskutieren und relativieren. Bin ich der alleinige Maßstab meiner Studien- und meiner Lebensplanung oder ist eine solche Annahme lediglich eine Anmaßung, die die vielen Determinanten meiner Existenz vor mir verbirgt.
Bildung ist aber häufig oder auch vor allem dieser Abstand von einer Vorschrift, die Bildungsgüter festlegt und ihren Wert und ihren Ertrag genau kennt. Mit Genuss und persönlichem Risiko ganz eigenwillig zu sein, welches Buch man liest, in welches Museum man geht, das ist Bildung ohne Beipackzettel. Das Tier kennt keine Werte, wohl aber Ziele für seine Triebe. Mit seinen Aktionen will es sie erfüllen. Wer seine persönlichen Bildungsziele verfolgt, hat die Wahl, seinen Instinkten dabei freien Lauf zu lassen (Perry Rhodan, der Erbe des Universums, die Sozialpsychologie in Entenhausen oder mal Goethes Faust,) oder eine Bewertung zuzulassen, die aus der Verabredung und Übereinkunft mit anderen Individuen entwickelt wird, also gesellschaftlich mitbestimmt ist. Die Biene merkt nicht, dass sie sich, triebgesteuert, an der Blume nährt oder honigstehlend vergeht und gleichzeitig etwas sehr Wichtiges, den Pollenstaub, von dannen trägt. So merkt man nicht, wenn man "Bildung" davonträgt und auch kaum, wenn sie wächst. Nicht direkt gewollt, aber ein lebensnotwendiger Nebeneffekt. Wer mit Werten ausgestattet ist und sie kennt, erlaubt sich auch dann wieder das zu studieren, was ihm gefällt, da er es umfassend einschätzen kann. Nicht Sachverhalte, Romeo und Julia und die Nachtigall im Garten, sind das Bildungsgut – wo war es und zu welcher Zeit –, das zu kennen sich lohnt, sondern alles, was Erfüllung und Gefährdung der Liebe bedeuten, auch mal abgesehen von einem klassischen Bildungsgut.
Bildung scheint also sehr viel mit Werten und Beurteilungen zu tun zu haben, weniger mit dem Kanon möglicher Lektüre. Aber ein persönlich gestalteter Fundus darf es schon sein. Sonst gäbe es einen literarischen Grenzwert. Wer Faust, II. Teil bis zur Hälfte gelesen hat, na ja, hat er einen befriedigenden Prozentsatz an einer Vollbildung erworben oder steht er kurz davor? Gesagt werden soll ganz schlicht, Bildung ist anders, nämlich holistisch, ganzheitlich. Wer eine Zeichnung von Goya gesehen hat, weiß sehr viel über seine Kunst und vor allem, was der Mensch so kann.
Je enger soziale Lebensbedingungen zu werden scheinen, umso kostbarer ist eine persönliche Einstellung, die es erlaubt, das scheinbar Nutzlose und häufig auch kostenlos zu Erwerbende hoch zu halten. Zur Bildung gehört, dass man durchprobiert, ob etwas ernst zu nehmen verdient oder nicht. Ironie und satirische Einstellung helfen zum Polish up des leicht Korrodierten, den Rost von der Bildung schmirgeln. Goethes "Hermann und Dorothea", wenn es denn Vergnügen macht, enthält nur zwei Verse zur französischen Revolution, die gerade weit weg von der Landesgrenze stattfand und Goethe anscheinend nicht weiter aufregte. Das wirkt verstaubt und sagt außerordentlich viel über eine Zeit und manchen Autor, die uns zu einer distanzierten Stellungnahme herausfordern. Bildung ist auch ein herausfordernder Prozess, ist riskant, egal, ob vom Zufall gesteuert oder von einer gesellschaftlichen Meinung getragen. Kultur als Risiko, das muss auch so erlebt werden können.
Das Emotionale hat überraschenderweise fast gar keine Halbwertzeit. Der Zorn des Achilles in Homers Ilias und der des engagierten Zeichners und Utopisten Tomi Ungerer sind für uns in gleicher Weise verständlich. Die Liebe der Königin Dido und die Liebe der Callas, die sich beide verbrennen, wir verstehen sie auch in ihrer Outriertheit (äußersten Form). Es gibt für uns Zeitlosigkeiten wie auch für den Anthropologen, der noch weiter, 40 000 Jahre zurück, zum Cromagnon-Menschen geht, schließlich sogar in die biologische Anthropologie, um festzustellen: Bei allem Wandel verlässt sich der Mensch auf Gleichbleibendes. Auch die lebendigen, wandelbaren Gefühle brauchen Spurtreue, Sicherheit. In ihnen steckt Kreativität, aber ausufernd dürfen sie nicht sein. Das Phantasievolle ist unzuverlässig, umspielt und benutzt als sichere Basis das, was wir intuitiv über Jahrtausende immer wieder finden. Anderes können wir gar nicht denken. Nur so ist es möglich, alte Zeiten und Kulturen, entschlüsselte Texte zu verstehen.
Selbst wem es gelingt, seine 1,6 Liter Hirn rot, grün schwarz oder gelb zu tunken, das heißt, wie Ziegenleder durchzufärben, er braucht stabile Verhältnisse und die Basis ewiger Gefühle. Auch dieses hier: Bildung, das ist der Mensch, der von sich selbst auf akzeptable Weise fasziniert ist, wenn er im Spiegel einen Kosmos erblickt. Er braucht es allerdings nicht immer mitzuteilen, denn was er sieht, sehen die anderen schon lange. Bildung ist ein sozial verbindendes Medium, das nicht funktionieren würde, wenn nicht ein erheblicher Genuss für den abfällt, der sich um sie bemüht.