Читать книгу Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach - Страница 10

9 Donnerstag, 18. Juli

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Von Oberursel über die nördliche Landstraße erreicht man beinahe geradewegs das Gebäude der „Polizeidirektion Hochtaunus“, Präsidium Mittelhessen, an der oberen Saalburgstraße in Bad Homburg. Auch ohne das blauweiße Schild vor den Eingangsstufen trägt der breite Bau mit einem weißroten Funkmast an der linken Kante des überhanglosen Schrägdachs die Handschrift „Behördensitz“. Über einem hohen, weißen Betonfundament, das teils Keller-, teils Erdgeschossräume umschließt, erstrecken sich drei Reihen blaugefasster, quadratischer Einzelfenster. Links vom Eingangsbereich folgt ein langgestreckter, rückwärtiger Seitenbau; ein zeitgemäßes Amtsgebäude, das größer ist, als die dunkelbraune Außenverkleidung zu erkennen gibt.

Ein behäbiger Mann in Zivil hütet das kleine Pförtnerbüro. Er lässt mich dastehen wie einen Bittsteller. Das Erscheinen eines Besuchers in dem dumpfen Vorraum mit den teilverspiegelten Sicherheitsglastüren ist für ihn kein Grund, auch nur den Kopf in meine Richtung zu drehen. Nachdem er bedächtig eine Zeitlang auf ein Blatt Papier geschrieben und ungerührt ein Telefongespräch geführt hat, erkundigt er sich durch eine quäkende Sprechanlage nach meinem Begehr.

Sehr viel schneller betritt Oberkommissar Ludwig, ein kräftig gebauter, fast kahler Mann in dunkelgrüner Hose, kurzärmeligem rotweißgestreiften Hemd mit Krawatte und dem gelegentlich immer noch anzutreffenden Rauchergeruch, den ungastlichen Eingangsbereich.

Auf dem Weg ins Seitengebäude zu seinem Arbeitszimmer, – Computer mit mittelgroßem Arbeitsmonitor in normal langweiliger Bürowelt aus hellgrauen Möbeln und Aktenschränken –, frage ich nach seiner Meinung über Corinnas Vernehmungskurs. Erst zögernd, dann recht redselig bekennt Ludwig, der Vortrag sei in Ordnung gewesen. Einzelne Video-Beispiele hätte er etwas dick aufgetragen gefunden. Corinna sei darin mit dem Zeugen mal hinterhältig freundlich, mal fluchend wie ein oberhessischer Rübenbauer umgesprungen – selbstverständlich als abschreckendes Beispiel. Worauf ich lachend unterbreche: „Darf ich ihr das mit dem oberhessischen Rübenbauer sagen?“

„Von mir aus. Aber besser ohne mich namentlich zu erwähnen.“

Wenig später sitzen wir vor einem älteren Dell-Laptop-Computer.

„Ich gehe davon aus, Herr Berkamp, dass Sie, was hier besprochen wird, vertraulich behandeln. Mit Ihrer Frau werden sie vermutlich ohnehin reden. Jedenfalls ist das nichts für Außenstehende.“

„Selbstverständlich. Privat handhaben wir das genauso.“

OK Ludwig dreht den Computer halb in meine Richtung.

„Also, schauen Sie sich in Ruhe die Bilder an. Möglicherweise sind Ihnen die Personen im Haus begegnet. Wir tappen damit im Dunkeln. Die gezeigten Personen müssen für Marx eine Bedeutung haben, stehen vielleicht in einem Zusammenhang mit ihm.“

Er drückt erneut eine Taste, ein Bildwiedergabe-Programm startet in langsamer Abfolge eine Serie von Fotos. Zunächst erscheint sechsmal das Gesicht einer Frau mit Kurzhaarschnitt, die gut fünfzig Jahre alt sein dürfte. Zu sehen ist die Frau vor unterschiedlichen Hintergründen, neben einer geöffneten Autotür, vor einem Hauseingang, auf dem Gehweg einer Straße. Die Bilder wurden ziemlich sicher ohne Wissen der Frau aufgenommen.

„Kenne ich nicht. Das Gesicht, die Frau habe ich noch nie gesehen.

Wissen Sie, wer das ist, Herr Ludwig?“

„Ne, keine Ahnung. Ich hatte gehofft, Sie könnten ...“

„Tut mir leid, muss ich passen.“

Ludwig betätigt wieder den Computer. Zum Glück klingelt in dem Augenblick das Telefon und lenkt ihn ab. So kriegt er – hoffentlich – nichts mit von meiner Überraschung bei der zweiten Bildserie.

Das Telefon verstummt nach dem vierten Klingeln.

Die Fotos zeigen Janina.

Ihre Machart unterscheidet sich von den vorigen Aufnahmen. Sie zeigen das Mädchen vor einer schmucklosen, hellgrauen Zimmerwand auf einer Art Liege sitzend. Mal lächelt sie kess, mal mit aufgerissenen Augen, mit rausgestreckter Zunge; kindliche Faxen für die Kamera. Das Gesicht wirkt lebendig, das nette Wesen des Mädchens mit seinen sprechenden Augen finde ich gut getroffen.

Es folgen Aufnahmen, die mich stutzig machen. Janina, verwandelt. Die Haare zerzaust, der Kopf zur Seite geneigt, die Augen halb geschlossen, der Mund in einer Kussandeutung, mit absichtlich verschobenem T-Shirt, erst die schmale linke, im nächsten Bild die nackte rechte Schulter in Richtung Kamera vorgeschoben. Fehlt nur noch die Bildunterschrift: „Na, wie wäre es mit uns beiden“, fällt mir dazu ein.

Vorsicht, Berkamp! Knallharte Sex-Fotos sind es nicht. Aber sie sollen eine sinnliche Aufforderung vermitteln, wollen mit der Anmutung einer Verführerin spielen.

„Was halten Sie davon, Herr Berkamp?“

„Schwer zu sagen. Auf jeden Fall eine andere Entstehungsgeschichte.“

OK Ludwig schaut mich an, als erwarte er Gehaltvolleres von mir.

„Auch ein anderer Verwendungszweck?“

„Möglich. Also ... das Mädchen habe ich neulich vor unserem Haus gesehen. Aber das ist alles. Mehr weiß ich nicht über sie.“

Ihren Vornamen mag ich nicht preisgeben; wie um sie zu beschützen.

„Zu wissen, wie sie heißt und in welcher Art Beziehung die Göre zu Marx stand, wäre sicher hilfreich.“

„In der Tat, Herr Ludwig. Jedenfalls hat sie bei diesen Fotos mitgewirkt, hat sich in Szene gesetzt. Wobei die Bilder nicht notwendigerweise von Marx gemacht worden sein müssen.“

„Pah, jedenfalls sind sie auf seinem Computer. Und Sie haben das Mädchen bei sich im Haus gesehen? Heißt für mich, dass sie wegen Marx dort war. Als Kriminalbeamter mache ich mir bei so was natürlich meine Gedanken. Sex mit einer Minderjährigen, Soft-Porno-Bilder für das Internet ... und noch sehr viel mehr und weit Unschöneres.“

„Geht mir ähnlich. Aber da können wir wohl nur rätseln.“

Die nächste Bildserie zeigt eine hübsche Frau etwa Mitte dreißig, kurze braune Haare, frisches, ovales Gesicht, ausdrucksstarke Augen, ähnlich braun und schwarz wie Janinas. Anders als bei ihr wurden die Fotos ohne wissentliche Beteiligung der Frau aufgenommen. Einmal steigt sie in buntem Sommerkleid in einen dunkelblauen Mercedes SLK-Sportwagen, dann bummelt sie in Jeans und Blazer an Schaufenstern vorbei oder tritt aus der Tür eines Kaffee-Ladens.

„Leider auch unbekannt, bei uns im Haus noch nicht gesehen. Ich weiß ja nicht einmal, wie lange Marx dort gewohnt hat. Das sind zwar Eigentumswohnungen, aber viele werden vermietet. In manchen Wohnungen wechseln die Mieter öfter.“

„Gut, wir sind gleich durch.“

Eine weitere Fotoreihe startet. Aus Entfernung aufgenommen zeigt sie eine recht gut aussehende Frau, Mitte bis Ende dreißig, mit blondbraunen, schulterlangen Haaren, bis zum Hals eingehüllt in einen flauschigen schwarzen Rollkragenpullover. Sie steht vor einem Garagentor, erst geschlossen, dann geöffnet. Dahinter ist der dunkle Umriss eines Wagens erkennbar, den ich für einen älteren BMW X-5 halte. Der Kameramann hat sich vor allem für die Frau, nicht für das Nummernschild des Wagens interessiert.

Es folgen je eine Aufnahme von zwei anderen Frauen. Ihre Gesichter lösen bei mir kein Wiedererkennen aus. Schließlich drei Fotos eines älteren, weißhaarigen Mannes in einem einfachen Anzug beim Verlassen eines Einfamilienhauses. Ich denke sogleich „Ostdeutschland“, ohne dass ich sagen könnte, warum.

„Tut mir leid, die Gesichter, die Frauen, das war wohl ein Schuss in den Ofen, Herr Ludwig. Unbekannt. Der Mann am Schluss ebenfalls. Was hat dieser Marx beruflich gemacht, wissen Sie das?“

„Ja, er war Lehrer an der Gesamtschule in Stierstadt; Deutsch, Sport, Kunsterziehung. Sie meinen, das hat mit den Bildern zu tun?“

Janina hat die gleichen Fächer genannt, die Marx unterrichtet.

„Eben. Die Bilder als Arbeitmittel für Kunsterziehung? ... Aber, ich glaube es nicht. Mir kam gerade der Gedanke Privatdetektiv. Bis auf das Mädchen wurden die Personen heimlich fotografiert. Möglicherweise sind die Frauen Kolleginnen an der Schule.“

„Vor den Bildhintergründen? Nöh, Herr Berkamp. Die Bilder sind mit Teleobjektiv gemacht. Mir fällt dazu das Wort Nachstellen ein, „Stalking“. Andererseits: Alle möglichen Leute haben die unmöglichsten Leidenschaften und Hobbys, die am Ende vollkommen harmlos sind. Ein wenig unappetitlich, aber auf keinen Fall strafbar. Wer weiß, vielleicht war der Kerl völlig verklemmt, hat als Ausgleich die Bilder schöner Frauen gesammelt.“

„Noch mal kurz; Sie sind sicher, dass Marx sich selbst vom Balkon geworfen hat?“

„Ja, wie gesagt, es gibt einen handschriftlichen Abschiedsbrief. Wenig aussagefähig, aber eindeutig. Augenblick, kann ich Ihnen zeigen.“

Herr Ludwig greift nach einem dünnen Faltordner und entnimmt ihm eine Klarsichtfolie, in der das DIN-A4-Papier steckt.

„Hier, dürfen Sie ruhig lesen. Sie werden mir zustimmen.“

Auf dem Blatt steht in großer, nach rechts geneigter Handschrift:

„Verzeih mir, Janina.

Es ist alles anders.

Ich hätte es gern besser gemacht.

Aber es geht nicht mehr.

Sei mir nicht böse, trotz allem.

Wilfried.“

Mit etwas Abstand folgt:

„Freitag, 12, Juli.“

Ein zweites Lesen der Zeilen, Wort für Wort, gibt meinem Coach-Kopf Gelegenheit, ihren Gehalt herauszuschälen. Klar ist, das Mädchen hat dem Mann sehr viel bedeutet. Ihm widmet er seinen letzten Aussagewunsch. Bei aller Ungenauigkeit muss der Text sich auf Dinge oder Handlungen beziehen, mit denen beide Personen einen hohen Wert verbinden. Hoch genug jedenfalls, um in dem Abschiedsbrief angedeutet zu werden. Dinge, die allerdings vergeblich oder falsch waren. Sündig, strafbar? Die mit ein wenig Phantasie als Auslöser für den Sprung vom Balkon angenommen werden können. Aus Verbitterung, Enttäuschung oder Scham unausgesprochen, aber für das Mädchen verständlich genug.

Mit einer Andeutung von Entrüstung überspiele ich die Betroffenheit, die der Text meiner Erinnerung an Janinas Tränen auf der Treppe unseres Hauseingangs hinzufügt.

„Hätte dieser Marx nicht etwas ausführlicher schreiben können. Eine Frechheit, uns ohne weitere Erklärung hier sitzen zu lassen.“

OK Ludwig winkt gleichgültig ab.

„Wieso? Klarer Abschiedsbrief, oder sehen Sie das anders?“

„Nein, Sie haben recht. Datum vom Vortag des Sturzes. Der Kerl hat sich innerlich ziemlich abgeplagt mit seinem Entschluss.“

„Das mag sein. Dennoch, freiwillige Selbsttötung, Ende der Ermittlungen. Wäre zwar nett zu wissen, wer diese Janina ist. Eine der abgebildeten Frauen? Oder das Mädchen in der Anmach-Pose. Ist aber sachlich unerheblich.“

„Was geschieht mit dem Toten?“

„Der bleibt noch einige Tage, wo er ist, beim Bestattungsunternehmen in Oberursel. Wenn wir keine Angehörigen finden, die sich um das Weitere kümmern, erfolgt eine amtliche Beisetzung, in der Regel namenlos. Anfallende Kosten werden aus der Hinterlassenschaft oder durch die Staatskasse gedeckt.“

„Also keine Angehörigen?“

„Die Schule hat uns mitgeteilt, dass Herr Marx aus Melligen stammt, ein Kaff nahe Weimar in Thüringen. Wir haben die Kollegen vor Ort gebeten, dort nachzuforschen; erst gestern. Ich bitte Sie, der Fall hat keine Dringlichkeit; für uns ein Verwaltungsakt.“

„Wenn sich niemand findet, spricht etwas dagegen, dass ich die Bestattung übernehme?“

„Sie, wozu das denn?“

„Kam mir gerade in den Sinn. Als letzten Dienst, ein Mitbewohner, der vor meinen Augen ...“

„Ich weiß nicht, möglich. Überlegen Sie sich das noch mal. In einem Monat vielleicht. Wie gesagt, es könnten sich ja noch Angehörige auftreiben lassen.“

„Kann ich den Computer und einen Wohnungsschlüssel haben?“

„Jetzt jedenfalls nicht. Falls Sie die Bestattung übernehmen, wäre das etwas anderes. Sie könnten zum Nachlassverwalter bestimmt werden.

Müssten sich dann aber um alles kümmern; Mietvertrag kündigen, Strom und Wasser, Versicherungen, die spärlichen Möbel, der ganze bürokratische Mist. Es gibt ein laufendes Konto mit dreitausendsechshundert Euro. Damit können Sie keine großen Sprünge machen. Aber wenn Sie unbedingt wollen, mir soll ’s recht sein.“

„Gut, Herr Ludwig. Ich denke darüber nach. Ihnen jedenfalls vielen Dank für die Auskünfte. Schade, ich hätte Ihnen gern weitergeholfen.“

Und mir selbst auch, füge ich in Gedanken an.

„Wieso, der Mann ist tot. Weiter geht es nicht für uns. Kommen Sie, ich bringe Sie zur Tür.“

Na denn; überlassen wir den weiteren Gang der Dinge dem Schicksal, beschließe ich, als ich in meinen Wagen steige.

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten

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