Читать книгу Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach - Страница 4

3 Samstag, 13. Juli

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„Fühlen Sie sich in der Lage, Fragen zu beantworten, Herr Berkamp?“

„Ja klar, fragen Sie; ich bin Kummer gewöhnt.“

„Wie darf ich das verstehen?“

„Meine Frau ist Hauptkommissarin im K 11 im Präsidium in Frankfurt.

Da bleibt es nicht aus ...“

„Wie heißt die Dame?“

„Sandner, Corinna Sandner. Haben Sie schon mit ihr zu tun gehabt?”

„Nicht dass ich wüsste. Könnte sich jetzt ergeben.“

„Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Lassen Sie uns mit der Todeszeit beginnen. Die kann ich nämlich ziemlich genau angeben, Herr Garster. Sie sind ... Polizei...Obermeister?“

„Ja, bin ich. Schön, dann fangen wir damit an.“

Ein schlanker Beamter von der Dienststelle Oberursel, Polizeidirektion Hochtaunus, in dunkelblauer Uniform mit Schutzweste.

Der Mann, vielleicht Mitte dreißig, mindestens einmeterfünfundachtzig groß, macht einen freundlichen Eindruck. Sein Ton ist verbindlich, sein Verhalten geschäftsmäßig, unaufgeregt. Angesichts der Umstände finde ich das wohltuend. Wir sitzen uns in einem silbern, blau und hinten giftgrün lackierten Mercedes Viano Polizeikleinbus gegenüber.

POM Garster hat mich das Einverständnis zur Befragung als Zeuge unterschreiben lassen, meine Personalien aufgenommen, sich mehrere Notizen gemacht. Jetzt tippt er geruhsam in einen Formularbogen auf seinem Laptop-Computer, der zwischen uns auf einem schmalen Klapptisch summt.

„Wir könnten es auch auf Papier tun; aber ich mag das lieber elektronisch,“ erklärt der Beamte beinahe entschuldigend. Draußen ist es zwar noch taghell. Aber im Schatten der hohen Bäume vor unseren Wohnblocks und hier im Fahrzeug mit den abgedunkelten Seitenscheiben bleibt davon kaum etwas übrig. Das Deckenlicht und eine kleine schwenkbare Arbeitsleuchte verbessern die Sichtverhältnisse nur mäßig. Was soll ’s; solange Garster die Buchstaben auf seinen Computertasten findet, kann es mir recht sein.

„Also, gut, die Uhrzeit.“

„Ja, leicht zu merken. Gleich nach der Tagesschau, zwei, drei Minuten später, habe ich meine Tochter in Santa Fe angerufen. Das ist in New Mexico in den USA. Sie lebt dort mit ihrer Familie. Wir haben gut fünfundzwanzig Minuten miteinander gesprochen. Mein Telefon zeigt die Dauer des Gesprächs an, daher weiß ich das. Das heißt, ich bin gegen zwanziguhrfünfundvierzig in mein Wohnzimmer gegangen.“

„Gut, ich gehe davon aus, das lässt sich überprüfen.“

„Klar, rufen Sie meine Tochter an, oder besser gleich den amerikanischen Nachrichtendienst NSA. Die können das sicher unabhängig voneinander bestätigen.“

Garster grinst wissend, bewegt langsam den Kopf hin und her.

„Ehrlich gesagt, ich finde das eine ziemlich Sauerei, diese Internet-Schnüffelei. Genaugenommen amtliche Straftaten unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung. Wir machen uns verrückt wegen Virenschutz für den Familiencomputer, und diese Geheimdiensttypen fummeln gnadenlos in jedem Computer der Welt rum, wie ihnen der paranoide Sinn danach steht.“

„Das aus Ihrem Munde? Gut zu hören, sehr einverstanden.“

„Na, ich bitte Sie; ich bin auch Staatsbürger und achte auf meine verfassungsmäßigen Rechte. Also, viertel vor neun. Wie ging es weiter, was geschah dann?“

„Ich stand in meinem Wohnzimmer, habe überlegt, wie ich mir den Rest des Abends vertreibe. Plötzlich war da in meinem Fenster, draußen vor dem Balkon, eine schnelle Bewegung abwärts. Es sah aus wie ein langer, schwarzer Schatten. Aber der Schatten hatte Arme. Die waren deutlich zu sehen.“

„Augenblick, bitte langsam jetzt, so gut Sie sich erinnern, Herr Berkamp. Konnten Sie den Kopf erkennen?“

„Nein. Es ging wahnsinnig schnell. Ich habe ja nicht bewusst hingeschaut. Wer rechnet denn mit so etwas? Ich bin sehr sicher, die Beine waren oben, etwas schräg, leicht angewinkelt, in der Bewegung ...“

„Also kopfüber, meinen Sie das?“

„Korrekt. Warten Sie mal.“

Ich schließe die Augen, atme einmal tief durch und rufe den Augenblick in die Erinnerung zurück.

POM Garster wartet geduldig, bis ich ihn wieder anschaue, enthält sich jeder Bemerkung über die kleine Unterbrechung.

„Ja, ja, ziemlich sicher, mit dem Kopf zuerst abwärts.“

„Konnten Sie das Gesicht sehen?“

„Nein. Gut, dass Sie danach fragen. Nein, da war nur dieser lange, schwarze Schatten; dunkle Bekleidung, nichts Helles. Ich unterstelle, ein Gesicht hätte sich deutlich abgehoben in der dunklen Gestalt.“

„Das bedeutet, die Person ist rückwärts über das Balkongeländer gegangen und mit dem Kopf zuerst gefallen. Das passt zu der Auffindlage des Körpers auf dem Rücken.“

Im Tippen sagt Garster halblaut: „Der Mann war mit einem karierten Tischtuch bedeckt, unten am Boden. Wissen Sie, wie das ...?“

„Das gehört mir. Habe ich vom Küchentisch gezerrt, gleich nachdem ich Sie angerufen habe. Ich wollte nicht, dass Leute kommen und glotzen, womöglich Bilder knipsen und ins Internet stellen.“

„Guter Gedanke. Kurz bevor der Schatten, die Gestalt, vor Ihrem Balkon hinabgefallen ist, gab es da besondere Geräusche?“

Nach kurzem Innehalten ergänzt er:

„Geschrei, laute Musik, ungewöhnlicher Krach, Sie verstehen ...?“

„Ja. Nein, da wir nichts zu hören. In meinem Zimmer war es still, der Fernsehen war ausgeschaltet. Wenn es lauten Streit gegeben hätte, zwei oder drei Stockwerke über mir, ich schätze, das hätte ich hören können. Aber, wie gesagt, da war nichts auffällig laut. Der Mann selbst war auch still, jedenfalls gab es keinen Schrei, der von ihm gewesen sein konnte.“

„Unten, direkt um den Toten herum, lagen da irgendwelche Dinge, Gegenstände, die dem Mann aus den Taschen gefallen sein können?“

„Nichts, was mir aufgefallen wäre. Ich habe allerdings auch nicht danach gesucht. Der Gedanke ist mir nicht gekommen. Ich habe seinen Puls am Hals gefühlt und den Mann zugedeckt. Er roch nach Alkohol, Cognac oder Whisky. Das fiel mir dabei auf.“

POM Garster nickt stumm vor sich in, tippt mit gleichmäßig langsamen Anschlägen weiter, während wir sprechen. Gelegentlich schaut er für Sekundenbruchteile zu mir auf.

„Also, Alkohol, muss überprüft werden. Haben Sie Dinge oder Gegenstände entfernt, die der Tote bei sich trug, etwas, was er in Händen hielt oder in den Taschen bei sich trug?“

„Nein, habe ich nicht.“

„Gut, weiter. Kennen Sie den Mann?“

„Nein, jedenfalls nicht mit Namen. Vielleicht sind wir uns schon flüchtig begegnet, an den Briefkästen oder in der Großgarage. Aber ich bin ziemlich sicher, wir haben keine zwei Sätze miteinander gesprochen.“

Das Öffnen der seitlichen Schiebetür des Dienstwagens unterbricht uns. Ein zweiter Polizeibeamter, um die vierzig Jahre alt, mit rundem, etwas rötlichem Gesicht und kurzen, schütteren, grauen Haaren, lehnt sich mit beiden seitlich ausgestreckten Armen an den Türrahmen. Er und ein Kollege sind nach meinem Anruf als erste in einem Opel-Insignia-Dienstwagen hier eingetroffen, haben die Stelle, wo der Tote liegt, weiträumig mit rotweißem Plastikband abgesperrt, um die wenigen Umstehenden auf Abstand zu halten. Einer der beiden hat den Fundort sowie die Leiche fotografiert.

Obwohl der Beamte uns im Gespräch sieht, redet er dazwischen.

„Der Notarzt hat den Tod bestätigt. Der Mann war anscheinend alkoholisiert. Er trägt keine Papiere bei sich, nichts, was auf die Identität hinweisen kann. Und er hat keine Schlüssel bei sich.“

Der Kollege Winkler, berichtet der Uniformierte, ist von oben her durch das Haus gegangen. In den obersten Stockwerken waren die Bewohner der in Frage kommenden Wohnungen anzutreffen. Ohne Auffälligkeiten. Die Frau im neunten Stockwerk hat eine Tochter, die mit ihrem Verlobten seit heute Vormittag unterwegs ist. Laut Auskunft der Nachbarn kommt nur eine Wohnung im achten Stockwerk in Frage. Auf dem Türschild steht W. Marx. Die Tür ist verschlossen; auf das Klingeln des Kollegen hat niemand geantwortet, aus der Wohnung drangen keine Geräusche. Links davon der Nachbar Stielke hat eine Personenbeschreibung gegeben, die zu dem Toten passt. Demnach lebte dieser Herr Marx allein in der Wohnung.

„Jedenfalls hat der Nachbar das ausgesagt; mit der Einschränkung, dass er ist tagsüber in Eschborn arbeitet. Wir könnten den Herrn Stielke um Identifizierung bitten, was meinst Du, Stefan?“

„Mir ist der Tote unbekannt,“ werfe ich ein.

POM Garster dreht sich dem Kollegen zu, drückt die Arme durch und atmet laut aus.

„Mann, Tom, Du stellst Fragen. Für mich sieht das klar nach Selbsttötung aus. Jedenfalls haben wir keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen. Keinen Grund für weitere Ermittlungen. Bleibt die Frage, wohin der Tote gebracht werden soll. Wenn keine Angehörigen da sind, die sich um die Bestattung kümmern. Mist. Wenn wir wenigstens in die Wohnung könnten. Ohne weitere Gefahrenhinweise können wir da nicht einfach einbrechen.“

Er kratzt sich am Kinn und verzieht den Mund.

„Pass auf, lass uns auf Nummer Sicher gehen. Sag den Homburgern bescheid, die sollen jemanden vorbeischicken. Ist der Notarzt noch da? Der soll den Nachbarn an die Hand nehmen und ihm den Toten kurz zeigen. Halt Du dich raus dabei.“

„Klingt gut; das machen wir,“ bestätigt der Kollege „Tom“, stößt sich mit leichtem Ruck vom Türrahmen ab, nickt kurz und läuft mit eiligen Schritten um eine große Buschgruppe herum zu dem Notarzt-Fahrzeug, das auf der Rückseite des Wohnblocks parkt.

Obermeister Garster schaut dem Kollegen versonnen hinterher.

Als er sich langsam zu mir dreht, meint er mit halblauter Stimme:

„Es gibt ja auch so etwas wie den Seelenfrieden eines Toten. Solange wir keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod durch Fremdeinwirkung haben, fühlen wir uns nicht berufen, sein bisheriges Leben umzukrempeln, als müssten wir ein Unrecht aufklären.“

Er starrt auf den Computerbildschirm, oder durch ihn hindurch.

„Wer weiß; der Kerl war vielleicht krass depressiv, hoffnungslos in Liebeskummer versunken oder litt an einer unheilbaren Krankheit. Also schließt er sich in seiner Bude ein, besäuft sich ordentlich, und schickt sich und sein Unglück auf die Reise ins Jenseits. Tja, was soll man da tun? In Bad Homburg sitzt unsere Kriminalpolizei. Kann nicht schaden, wenn die sich eine Meinung bilden.“

POM Garster tippt eine Weile in den Computer. Ohne aufzuschauen, bemerkt er:

„Ich denke, wir sind soweit fertig, Herr Berkamp. Natürlich können sich neue Fragen ergeben, vor allem, falls die Homburger Kollegen auf etwas stoßen, was Zweifel am Hergang des Geschehens weckt. Danke erst mal für Ihre Aussage.“

Ich stehe bereits neben der Wagentür, als er mir nachruft:

„Übrigens, ich habe noch eine Bitte, aber auch nur, weil Ihre Frau im Frankfurter K 11 arbeitet. Unsere Art zu denken dürfte Ihnen nicht fremd sein. Falls Sie in nächster Zeit etwas Ungewöhnliches im Zusammenhang mit der Wohnung im achten Stock oder um diesen Herrn Marx herum bemerken, oder wenn Sie im Gespräch mit Nachbarn etwas hören, was interessant sein könnte, ich will damit sagen, man weiß nie, welche Merkwürdigkeiten bei einem solchen Todesfall auftreten können. Rufen Sie ruhig an. Bei mir oder den Kollegen in Bad Homburg.“

„Ist recht. Übrigens, das Tischtuch, kann einer von Ihnen das bitte in den Müll werfen? Ich nehme es nicht mehr zurück.“

„Kein Thema. Würde ich auch so machen. Also, wiedersehen, Herr Berkamp.“

„Tschüss, Herr Garster, und noch einen guten Abend, falls das geht.“

*

Marx, Wilfried Marx. Einige Schritte weg von dem Polizei-Kleinbus fällt es mir wieder ein. Das Mädchen auf den Geländefahrrad hat nach ihm gefragt; gestern, nein, vorgestern, Donnerstag.

Unwillkürlich bleibe ich stehen.

Ob das wichtig ist für die Polizei?

Nöh, kann ich mir nicht vorstellen. Zumal ich außer einem Vornamen, Jana oder Janina, nichts über das Mädchen und seine Beziehung zu dem toten Marx weiß.

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten

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