Читать книгу Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach - Страница 18

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Kurzes Nachdenken über polizeiliche Ermittlungen. Eine weitverbreitete Vorgehensweise beginnt mit den Fragen: Wer kam dem Opfer im entscheidenden Augenblick nahe. Und wem nutzt sein Tod? Dies folgt unbewusst einem Denkmuster, das in der Welt der Physik unbestreitbare Gültigkeit hat: Ursache und Wirkung. Klare Muster und gerade Verbindungslinien erfasst unser Gehirn blitzschnell und einprägsam. Der Kopf liebt einfache Antworten, selbst wenn sie das wirkliche Geschehen falsch beschreiben. Ein Mann beugt sich über den Toten, er hält die Mordwaffe in der Hand – klarer Fall! Das soll nicht der Täter sein? Schwer vorstellbar.

Zugegeben, bei vielen Straftaten treten alle entscheidenden Tatsachen offen zutage, und eindeutige Schlussfolgerungen zwingen sich auf: Der hibbelige Drogensüchtige springt hinter einer Hecke hervor, fordert mit vorgehaltenem Messer einen zufälligen Fußgänger zur Herausgabe seines Geldes auf, sticht im einsetzenden Gerangel zu; das Ganze beobachtet von einer verängstigen, älteren Dame, die zehn Meter weiter in einem Auto auf ihre Tochter wartet.

Häufig genug liegen die Dinge nicht so einfach. Wenn die Todesursache Fragen aufwirft. Wenn eine Vielzahl unbekannter Täter mit ganz unterschiedlichen Verhaltensgründen in Frage kommt. Wenn keine verlässlichen Spuren dem Tatort eine Richtung geben, Zeugen fehlen oder widersprüchliche, aufgeblasene oder absichtlich irreführende Hinweise liefern. Jedem Kriminalbeamten, der mit Sinn und Verstand arbeitet, können solche Fälle den Nachtschlaf rauben.

Davon hat Corinna mehr als einmal berichtet.

Bei ihrer Arbeit bevorzugt sie diese geradlinige Ermittlungsrichtung.

„Bleib mir weg mit Hirngespinsten; für mich zählen nur beweisbare Tatsachen,“ diente uns mehrfach als Anstoß zu ausufernden Meinungsverschiedenheiten. Ihr Bekenntnis, stets vom Sachverhalt auszugehen, hindert Corinna freilich nicht daran, bei Vernehmungen Dinge zu behaupten, die mit den Tatsachen wenig zu tun haben. Der Verdächtige empfindet sie jedoch häufig genug als Bestätigung, längst überführt zu sein und sein Heil in einem Geständnis zu suchen.

Vera Conrad ist in der Hinsicht zurückhaltender und zugleich offener, wagt unbekümmert auch gedankliche Umwege, selbst wenn sie am Ende nicht weiterführen. Sie vertraut darauf, dass ihr Kopf im Verborgenen und ohne angestrengte Denkbemühung auch aus ungewöhnlichen Überlegungen etwas Sinnvolles herausholt.

Natürlich tanze ich in der Hinsicht aus der Reihe.

Nicht allein wegen meiner Cassandra-Intuition.

Ich folge einer anderen kriminologischen Denkrichtung.

Die verdanke ich meinem Einschreiten in die versuchte Kindesentführung in San Francisco. Daraufhin bin ich Belinda Carey begegnet, Detektivin und Computerfachfrau in der Einheit für „Besondere Opfer“ im Polizeihauptquartier der Stadt.

Belinda ist Hopi-Indianerin aus Nord-Arizona und erfahren im Kampf innerhalb und zwischen polizeilichen Abteilungen und Diensten. Beim Aufspüren der mutmaßlichen Kindesentführer habe ich einige ihrer Fähigkeiten anschaulich erleben dürfen. Dabei hat sich zwischen uns ein Verhältnis entwickelt, das ich ohne Hintersinn als Freundschaft bezeichne. Seit dem denkwürdigen Oktober im vorigen Jahr ab zu mit Belinda zu telefonieren ist mir stets eine Freude.

Sie hat mir viel von ihre Art kriminalpolizeilicher Arbeit beigebracht, zugegeben gemäß den rechtlichen und kulturellen Gegebenheit in Kalifornien. Bei Kollegen „an der Front“ verschafft Belinda sich damit allerdings nur wenige Freunde und allenfalls unausgesprochene Hochachtung.

Sie betrachtet das Geschehen psychologisch, denkt den Fall möglichst unvoreingenommen vom Opfer und einem denkbaren Täter her. Was hat beide Seiten an den Tatort geführt, und wie haben sie sich dort verhalten? Den Fragen spürt sie nach, mit Achtsamkeit für Kleinigkeiten, Erfahrung und praktischem Menschenverstand.

Die Tatortbeschreibungen der vor ihr eingetroffenen Streifenbeamten hält sich Belinda zunächst vom Leib. Auch Zeugen und das Umfeld befragt sie erst später.

Als Erstes erkundet sie selbst in Ruhe den Tatort. Ihn lässt sie die Ereignisse erzählen, so lange, bis sie gefühlsmäßig einen stimmigen Sinn ergeben ... oder ihre Widersprüche verkünden.

Einfach gesagt beginnt Belinda nicht mit der Frage „Wer?“ und deren mutmaßlichen Motiven. Statt dessen versetzt sie sich in die Tatbeteiligten, befragt sie anhand der vorgefundenen Umstände gedanklich nach dem „Wie?“ und dem „Wieso?“.

Von Belinda Careys Erfahrungsschatz bin ich weit entfernt. Doch die Grundzüge ihrer Herangehensweise habe ich verstanden und an Fallbeispielen aus Corinnas Berichten und eigenem Erleben erprobt.

Diesem Denken folge ich, seit ich vorhin aus meinem Wagen gestiegen bin. Jetzt fühle ich mich hin- und hergezogen zwischen dem Bedürfnis, in Ruhe die zahllosen Fragen festzuhalten, die mir im Kopf umherschwirren, und dem Wunsch, Frau Aschauer nicht wie unbeachtet rumsitzen zu lassen. Solange die Todesursache nicht feststeht, ist jede weitergehende Suche nach Antworten ohnehin verfrüht.

*

Unerwartet schnell hupt es draußen. Ich laufe hinaus zur Gartentür. Veras roter Mini-Cooper Clubman mit silbernem Dach rollt im Schritttempo an meinem Wagen vorbei und stoppt. Sie winkt mir im Aussteigen flüchtig zu, öffnet eine der rückseitigen Türen des schnuckeligen Kombiwagens und zieht einen Pilotenkoffer mit den wichtigsten Arbeitsgeräten hervor. Den Inhalt, Handschuhe, Maßband, Kamera, Diktiergerät, eine taschenbuchähnliche Mappe zum Abnehmen von Fingerabdrücken und andere nützliche Hilfsmittel, hat sie mir vor einigen Wochen vorgeführt.

Heute trägt Vera halb hohe, weiße Sandaletten und ein leichtes, buntes Sommerkleid. Typisch für sie mit einem V-Ausschnitt, der gerade so viel Busen zeigt, wie dem unbefangenen Umgang miteinander gut tut. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als sie mich mit einem flüchtigen Küsschen begrüßt. Weniger, weil ich Vera mag, sondern weil ich mich von jetzt an amtlich entlastet fühle. Mit ihrer Anwesenheit ist die Gefahr gebannt, dass andere Beamte oder ein Staatsanwalt mir später Verhalten vorwerfen, das als hinderlich oder gar schädlich für die weitere Ermittlung gelten könnte.

„Danke, Vera. Ich bin froh, dass Du so schnell kommst. Sollen wir Sie zueinander sagen ...?“

Sie unterbricht mich mit ihrem stets unbeschwert klingenden Lachen.

„Quatsch. Wir kennen und wir lieben uns. Sind so gut wie Kollegen. Also, komm, rein ins Vergnügen!“

Damit übergibt sie mir den Pilotenkoffer.

„Halt, Vera, bitte, angemessen! Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist. Lass uns respektvoll mit der Toten umgehen, auch wenn das Drum und Dran anstößig erscheint.“

„Schon gut, Robert. Ich lache nun mal gern. Wenn ich alles Elend unserer Arbeit an mich ließe ... Los, geh vor.“

Frau Aschauer erwartet uns im Windfang hinter der Eingangstür.

Vera schenkt ihr ein flüchtiges Lächeln, gibt ihr kurz die Hand.

„Ich bin Oberkommissarin Conrad, K 11 im Präsidium Frankfurt. Mein Ausweis liegt draußen im Auto, falls Sie mir nicht glauben. Wo geht ’s lang?,“ und folgt mir sogleich die Treppe hinab.

Ich fasse sie am Arm, flüstere ihr „sie heißt Sandra Aschauer“ zu.

„Bitte bleiben Sie dort oben, Frau Aschauer. Für Fragen ist anschließend Zeit.“

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten

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