Читать книгу Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach - Страница 6
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ОглавлениеMahina ist hawaiisch und bedeutet „Mond“, auch „Mond-Göttin“.
Mit ihren kurzen, pottschwarzen Haaren, einem Hauch von Olivefarbe in der Haut und etwas exotisch anmutenden, dunklen Augen wird sie gelegentlich für eine Spanierin oder Mexikanerin gehalten. Obwohl sie mit gut Einmetersiebzig größer und schlanker als die typischen Vertreterinnen dieser Länder ist.
Amtlich gilt sie als Amerikanerin. Ihr Reisepass mag das behaupten.
Sie selbst weist es entschieden zurück.
Mahina „Mai“ Ling ist mit Leib und Seele Hawaiianerin.
Gelegentlich auch ungefragt klärt sie Gesprächspartner auf. Schließlich wurde ihr Heimatland mit seinen acht Hauptinseln mitten im Pazifik seit etwa 1820 von rücksichtslosen, habgierigen amerikanischen Landräubern und Missionaren bevölkert, ausgeplündert, wenig später rechtswidrig von den USA in Besitz genommen, mit weiträumigen Militärstützpunkten übersät und viele seiner traumhaft schönen Strände durch Hoteltürme für Touristen verschandelt.
Mahina findet, sie hat gute Gründe, daran zu erinnern.
Geboren wurde sie in Lahaina auf Maui, der zweitgrößten Insel. Als was wohl? Als entfernter Spross eines bigotten, puritanischen, deutsch-amerikanischen Missionars und seines eingeborenen Dienstmädchens. Und deren Kindern, die einen Schuss Blut chinesischer Plantagenarbeiter in den Adern hatten.
*
Begegnet sind wir zwei uns voriges Jahr im Oktober in San Francisco. Nachdem ich zufällig die fünfjährige Janey Wong davor bewahrt habe, entführt zu werden. Als Dank schenkte mir deren Familie Personenschutz und die Einführung in eine alte, chinesische Nahkampflehre. Die Trainerin hieß Mahina Ling. Bald verband uns mehr als die schüchtern eingestandene Zuneigung auf den, ich gestehe es, meinerseits zweiten Blick. Zunächst konnte ich mein Glück kaum fassen. Eine Frau, immerhin achtzehn Jahre jünger als ich, mit beeindruckenden Fähigkeiten und einem Aussehen, das die Titelseite jeder Frauensportzeitschrift zieren könnte.
Mahina wusste von Anfang an, was sie an mir hatte. Mir fiel schwer zu glauben, dass sie allein lebt. Bis sie mir am dritten Tag offenbarte, was uns verbindet. Es war wie ein Blitzschlag, nur ohne Donner. Und hat mich erschüttert, gerührt, beglückt und ernüchtert. Ungefähr in der Reihenfolge, verteilt über zwei, drei Tage.
Mahina und ich teilen – in unterschiedlicher Stärke – das Schicksal „höherer“ sinnlicher Empfindsamkeit; landläufig als Hellsichtigkeit bezeichnet. Ihre Sinneskanäle sind weiter offen als meine. Sie ist, einfach gesagt, nahezu dauerhellsichtig, obendrein mit einem Intelligenzquotient von 160 geschlagen.
Toll? Nein. Wirklich kein Grund, neidisch zu werden.
Das Leben mit diesen Fähigkeiten ist alles andere als ein Vergnügen. Nur wer die uns vorbehaltenen Fegefeuer aus eigenem Erleben kennt und oder den Alltag mit einem solchen Menschen teilt, vermag zu ermessen, welche Seelenpein diese „Gabe“ bereiten kann. Ungezählte Menschen empfinden den Bummel durch ein belebtes Einkaufszentrum als überwiegend vergnügliches Erlebnis. Für Mahina grenzt er an Spießrutenlaufen. Zumal wenn sie müde oder hungrig ist, ihre Aufmerksamkeit nicht voll im Griff hat. Ungewollt hört sie die Gedanken der Menschen um sich herum. Die schlechten und traurigen deutlicher als die heiteren und glücklichen. Was sie empfängt sind äußere, fremde Signale, kleine Einbildung.
Sie hat sich mehr als einmal testen lassen.
Ähnlich geht es ihr, wenn sie ihren „Röntgenblick“ nutzt, um die Energiezentren, die sogenannten Chakras, fremder Menschen zu betrachten. Selten eine schöne Sache. Ungewollt erkennt Mahina darin Teile von deren Lebensgeschichte sowie gesundheitliche oder seelische Störungen. Folglich meidet sie, wenn möglich, größere Menschenansammlungen.
Was tust du, wenn dir ungewollt Hinweise zuteil werden auf ein großes Missgeschick, das in naher Zukunft einen Menschen treffen wird, der dir viel bedeutet? Warte; denk nach, bevor du leichtfertig antwortest. All das mag dazu beitragen, dass Mahina in der Begegnung mit fremden Menschen zurückhaltend, fast schüchtern wirkt.
Ihren Kampfsport übt sie mit Inbrunst aus. Er hilft ihr, die Sinne zu beruhigen und zu steuern. Manchmal denke ich, sie kämpft dabei auch gegen die Dämonen, die sie in bösartigen Menschen entdeckt.
Mit ihrem Alleinleben hatte Mahina sich in San Francisco einigermaßen eingerichtet. Das konnte ich nachvollziehen. „Normale“ Menschen begegnen der übersinnlichen Gabe mit Unverständnis und Angst. Deshalb sprechen wir mit ihnen höchst selten darüber. Du wirst hinterrücks für unheimlich oder plemplem gehalten. Und bekommst kaum eine zweite Chance, zu erklären, dass viele Kinder und in geringerer Zahl Erwachsene zu höheren, nichtalltäglichen Sinnesleistungen fähig sind. Folglich entwickelst du eigenwillige Maßstäbe für in Frage kommende Beziehungspartner.
Corinna hatte mit meinen „Intuitionen“ ebenfalls ihre liebe Last.
Mahinas privater Umgang beschränkte sich auf wenige Personen, die ihr vertraut waren. Sie hockte gern daheim, las bergeweise Bücher im Schnelldurchlauf oder fuhr auf ihrer Harley-Davidson nachts dem Mond hinterher. Für sie war ich ein Geschenk des Himmels.
Und ich, der sonst Urlaubsflirts entschlossen aus dem Weg geht, fühlte mich unwiderstehlich in Mahinas Bann.
Wenn sie dir gestattet, ihr näher zu kommen, und du dich darauf einlässt, entdeckst du eine einmalig faszinierende Frau. Sie zieht die Blicke nicht auf sich. Vielleicht dank des unsichtbaren Energieschutzrings, den sie um sich herum aufgebaut hat. Denn wer genau hinschaut, entdeckt ihre prima Figur und ihr sehr hübsches Gesicht. Mahina schafft es, regelmäßig unterschätzt zu werden. Ihr ist es recht. Sie setzt sich nicht in Szene, schminkt sich kaum, trägt meist unauffälliges Dunkelgrau; Jeans, Lederblouson. Damit böse Geister es schwerer haben, sie zu finden, hat sie mir anvertraut. Bei älteren Hawaiianer und vielen Indianervölkern lebt diese Überzeugung fort.
Mahina macht nicht einfach Kampfsport. Sie trainiert „Ba-Gua“.
Und „Fa Jin“. Das treibt „Ba-Gua“ auf eine gespenstische Spitze.
Beides beherrscht sie wirklich.
Eine seltene chinesische Kampfsportart, abgeleitet aus der Tai-Chi-Tradition. Sie folgt – anders als Kung-Fu – nicht der Lehre des Feuers; wilde Sprünge, harte Schläge, schnelle Tritte.
Sondern der Lehre des Wassers. Die setzt vor allem auf Atmung, entspannte Haltung und kleine Bewegungen mit Händen und Armen. Äußerlich macht das nicht viel her. Es braucht ausdauerndes, jahrelanges Training. Vor allem für das gefährlichere „Fa Jin“. Man baut mit Willenskraft Energie im Körper auf und schießt sie blitzartig in kleinen, gerichteten Bewegungen auf den Gegner, scharf wie ein Meißel.
Das widerspricht fast allem, was die meisten Leute unter Kampfsport verstehen. Und hinterlässt ratlose Ärzte, die keine vernünftige Erklärung finden für Knochenbrüche oder innere Verletzungen ohne die gewöhnlichen, äußeren Schlagwunden. Beispielsweise bei Leuten, die trotz Warnung nicht glauben wollen, dass es unklug ist, Mahina dumm zu kommen. Also meist bei Männern, die es als ihr natürliches Recht betrachten, eine gut aussehende, einzelne Frau anzumachen. Erst mit anzüglichen Sprüchen, dann – falls die Dame mit einem höflichen „Fuck off!“ antwortet – mit Zupacken oder Zuschlagen.
Wenn ein gestandener Kerl plötzlich zwei Meter rückwärts durch die Luft fliegt, und nach dem Koma stotternd schwört, von der Frau weder getreten, gestoßen oder geschlagen worden zu sein – das ist „Fa Jin“. Habe ich selbst erlebt, nur zu Übungszwecken, auf einer Matte.
Und ohne das Koma.
Gebündelte Willensenergie in der härtesten Form.
*
Mahina hat ihr Leben lang gekämpft.
Verstärkt seit der Pubertät. In der Zeit entfalteten sich ihre übersinnliche Fähigkeiten. Ungewollt und anfangs ohne sich selbst darüber zu wundern. Bei all ihren Eigenheiten; dass sie sich ihre seelische Gesundheit bewahrt hat, verdankt sie ihrer Oma Caren. Die begriff, über welche Gabe ihre Enkeltochter verfügte, nahm die Fünfzehnjährige – gegen den entschiedenen Widerstand von Eltern und staatlicher Fürsorge – in ihre Obhut und kümmerte sich um Mahinas Erziehung. Als waschechte Oma und bei älteren Einheimischen geachtete kahuna, eine beherzte Frau reich an huna, Wissen und Weisheit gemäß uralten, hawaiischen Überzeugungen und Gebräuchen.
Das prägte Mahinas Wesen.
Sie tat, was sie sagte. In den ersten Tage bereitete mir das einiges Kopfzerbrechen. Ihre geradeheraus gelebte Zuneigung fand ich ... missverständlich. Dabei folgt Mahina nur dem traditionellen Selbstbewusstsein hawaiischer Frauen. Denen galt ohana – Familie – als das höchste Gut. Die Frauen hatten darin naturgemäß das Sagen, bei vielen Dingen mehr als die Männer. Bis heute.
Nur – ohana konnte das halbe Dorf umfassen.
Die ausschließliche, eheliche Zweierbindung von Mann und Frau, von puritanischen Predigern gnadenlos verbreitet, wurde bald zum Markenzeichen missionarischer Niedertracht und Unmenschlichkeit.
Die alten hawaiischen Überzeugungen leben – dank Oma Caren – in Mahina weiter. Auch wenn es um körperliche Lust und Liebe geht. Wenn du das einmal kapiert hast, wird der Umgang mit ihr eine ganze Ecke leichter. Treue bedeutet für sie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und beständige, liebevolle Beziehungsarbeit. Sex als unverbindliches Zufallsvergnügen lehnt sie ab. Sich von einem Mann gängeln zu lassen, steht für sie ebenso außer Frage wie einen Mann als Besitz zu beanspruchen. Für Mahina kann jeder Mensch mehr als einen mit ehrlichem Herzen lieben, ohne einem anderen etwas wegzunehmen. Vorausgesetzt, die Beteiligten sprechen – immer – offen und wahrhaftig miteinander.
Auf den ersten Blick erscheint dies wie unvereinbare Widersprüche, wenn nicht gar wie die Rechtfertigung einer sehr lockeren Moral. Weit gefehlt. Im Alltag erlebe ich Mahina als eine hübsche, coole, zuverlässige, gelegentlich überaus anstrengende, auf ihre Weise sehr treue und für mich einmalig packende Frau.
*
Verglichen mit ihrem San Francisco-Appartement aus Wohnküche und Schlafklosett empfand Mahina unsere Vierzimmerwohnung in Steinbach als Luxuswohnraum. Mona brachte Mahina seit den ersten Telefongesprächen – auch aus Mitgefühl für deren übersinnliche Fähigkeiten – große Zuneigung entgegen. Dennoch hakte es während der erste Woche nach ihrer Ankunft ein paar mal zwischen beiden.
Mahina lacht eher selten; mit Ironie umzugehen fällt ihr schwer. Sie denkt sehr schnell und kreativ, sagt meist unverblümt, was sie denkt, nicht immer diplomatisch. Ihr meist ruhiger Gesichtsausdruck mag Leuten, die nicht genau hinschauen, wie gleichgültig erscheinen. Dafür lächelt sie innerlich um so öfter und geht gewiss die meiste Zeit zufrieden und vergnügt durch den Tag. Menschen, denen sie vertraut, zeigt sie eine anrührende Herzlichkeit.
Dann brach das Eis. Als Mona die Eigenheiten im Wesen unserer Mond-Göttin besser verstand. Inzwischen sind die beiden enge Verbündete im Herzen. Mona half Mahina beim Zurechtfinden im Alltag und in der deutschen Sprache. Auch wenn deren kreative, meist unbestechlich scharfe Denkweise sowie ihre Lust, über Worte und die Welt zu streiten, Mona mehr als einmal in stille Verwunderung versetzte.
In Sachen Liebe machte sie ebenfalls ganz neue Erfahrungen. Zunächst unsicher, dann zaghaft erfreut erlebte sie Mahinas reihum liebevolle Wertschätzung im alltäglichen Miteinander. Ohne jede Anzüglichkeit, spürbar frei von Eifersucht. Mahinas Umgang mit Sex und Sinnlichkeit – glaubwürdig, zwanglos und ohne Lüsternheit – wirkte für Mona erst missverständlich, dann wie eine innere Befreiung. Das Ergebnis: Auch wenn es gelegentlich anstrengend wird, wir halten zusammen, leben einen überwiegend heiteren, gelassenen Alltag zu dritt.
Bunte Familie.
Ein Stück traditionelles Hawaii in Steinbach.
Ob mit oder ohne Sex – Monas Platz in meinem Herzen oder unserem Haushalt zu schmälern kommt Mahina nicht in den Sinn.
Abgesehen davon, dass ihr dies nicht gelingen würde.
Gegenwärtig weilt Mahina für etwa zehn Tage in San Francisco. Sie will ihre kleine Wohnung für unregelmäßige Ferienbesuche einmotten und sich gebührend von ihrer bisherigen Arbeitgeberin Nancy Wong verabschieden. Außerdem sind noch Formulare für die Entzollung ihrer Harley-Davidson „Road King“ zu beschaffen.
Neulich, nach ihrem Abflug in Richtung San Francisco, standen Mona und ich betrübt am Flughafen rum. Nur wenige gemeinsame Wochen; doch mein Gefühl des Verlusts entsprach dem von Jahren. Mona hatte Tränen in den Augen, ungelogen. Und hat den Unterschied zwischen Corinna und unserer Mond-Göttin so ausgedrückt:
„Mahina ist wirklich anwesend, ganz und gar, wenn sie da ist.“
Treffender lässt es sich nicht sagen.
Jetzt stehe ich im Wohnzimmer und vermisse sie einfach.