Читать книгу Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach - Страница 8

7 Dienstag, 16. Juli

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Kurz nach dem Mittagessen. Ich sehe sie, ehe sie mich bemerkt.

Herr Jovanic, unser Hausmeister, hat mich gerade daran erinnert, dass morgen Vormittag das Wasser im Haus abgedreht wird. Die Entkalkungsanlage muss gewartet werden. Wir stehen an den Müllbehältern neben dem breiten Fußweg, der von der Straße zu unserem Hochhaus führt. Mit gleichmäßigem Tritt in die Pedalen biegt das Mädchen auf dem blausilbernen Geländefahrrad in den Weg ein und kommt hinaufgeradelt.

Sie schenkt uns keine Beachtung, fährt zielsicher vorbei.

„Danke noch mal, Herr Jovanic, und tschüss.“

Ich beeile mich, ihr zu folgen.

„Hey, hallo, Jana, warte mal!“

Sie tritt ruckartig in die Bremse, verdreht das Vorderrad, hüpft auf den Weg und schaut seitlich zu mir.

„Meinen Sie mich? Ich heiße Janina!“

„Ach, entschuldige, Janina.“

Sie trägt die gleiche, dünne Windjacke über ihren engen Jeans wie vor zwei Tagen. Links und rechts von ihrem Hals baumeln die zwei kleinen Ohrlautsprecher halblaut vor sich hintönend.

Janina mustert mich unsicher, als ich zu ihr trete.

„Was ist, wollen Sie was?“

„Mit dir sprechen.“

„Wieso? Mit mir? Nöh!“

Wie am Donnerstag brauche ich etwas länger als ihr wahrscheinlich recht ist, um meinen Blick von ihren goldbraunen Augen mit der glänzend schwarzen Iris zu nehmen. Ihr ganzes Gesicht wirkt wie blankgeputzt, mühelos freundlich und hübsch, wie es vielen Mädchen in dem Alter gegeben ist. Mit der winzigen Spur Scheu darin, die erst recht zum Hinschauen anregt; mich jedenfalls.

„Doch, junge Dame, ich muss mit dir reden. Komm, lass uns da auf die Treppe setzen.“

Der Eingangbereich ist von der Mittagssonne aufgeheizt. Ich nehme auf der dritten Stufe Platz. Janina parkt ihr Fahrrad, bleibt zwei Schritte vor mir stehen.

„Komm, setz dich endlich, ich fresse dich nicht.“

„Nöh, ich will zu Herrn Marx.“

„Das geht nicht. Jetzt setz dich schon her.“

Sie bleibt stehen.

„Wieso?“

Ich nehme mir Zeit, drehe mich im Sitzen so, dass mein Bauchbereich ihr unmittelbar zugewandt ist. Eine unbewusst Vertrauen fördernde Haltung.

„Dreh mal die Musik aus, bitte.“

Sie starrt durch mich durch, folgt aber meiner Anweisung.

„Mann! Und jetzt?“

„Es ist etwas passiert, ... mit Herrn Marx. Erst kannte ich ihn ja nicht, ... als Du letztens nach ihm gefragt hast. Aber inzwischen ...“

Sie unterbricht mich:

„Was ist mit ihm?“

Ich schaue ihr ruhig ins Gesicht, hebe beide Arme schulterweit auseinander, die Hände besänftigend auf sie gerichtet.

„Herr Marx ist tot.“

Janina schaut mich reglos an, als habe sie meine Worte nicht gehört.

„Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen.“

Für einen kurzen Augenblick bekommt sie erschrocken große Augen, unmittelbar gefolgt von trotzig zusammengezogenen Augenbrauen; sie schnappt nach Luft und plärrt:

„Das ist solch eine widerliche Gemeinheit!“

„Was ist eine Gemeinheit, Janina?“

Mit leichtem Beben in der Stimme blafft sie:

„Lügen, alle lügen mich immer nur an. Statt mir ehrlich zu sagen ...“

Auch wenn ich es im nächsten Augenblick bereue, ich unterbreche sie.

„Janina, ich lüge nicht. Es ist die Wahrheit.“

Noch Tage später bleibt mir mein Missgeschick bei dieser Begegnung mit dem Mädchen lebendig im Gedächtnis haften. Ich hätte nachfragen, sie aussprechen lassen sollen.

Sie bewegt die Lippen wie ein Fisch auf dem Trockenen, bringt schließlich heraus:

„Aber das kann nicht sein! Das darf er nicht!“

Ihre Unterlippe beginnt zu zittern. Ich beuge mich vor, ergreife ihre rechte Hand, ziehe Janina an die Stufen heran. Sie setzt sich willig neben mich.

„Doch, Janina. Es tut mir leid. Aber es ist so.“

„Wieso? Woher wissen Sie das?“

Ich drehe mich ganz ihr zu. Sie schaut mir zum ersten Mal ins Gesicht, lange und unentwegt, als fordere sie mich auf, meine Aussage zu ändern. Ihre Augen werden nass, und große, glitzernde Tränen treten hervor. Ich muss tief Luft holen, bleibe still sitzen, obwohl ich sie lieber in den Arm nehmen oder wenigstens ihre Tränen wegwischen möchte.

„Ich habe es selbst gesehen, Janina.“

Ihr Gesicht bleibt reglos, nur die Augenlider blinzeln mehrfach gegen die Tränen. Ein freundliches Gesicht, ein hübsches Mädchen. Sie lieb zu haben könnte mir leicht fallen. Die Vorstellung dagegen, irgendwie sexuell mit ihr umzugehen, mit dieser schlanken Gestalt mit den Ansätzen entstehender Brüste – ich breche den Gedanken ab, um das Aufkommen eines Brechreizes zu verhindern. Als Tochter Claudia in das Alter kam, was war ich stolz auf sie; und zugleich ängstlicher als zuvor, spürte deutlicher den Wunsch, sie zu beschützen. Jetzt nervt mich Monas Frage: Wer weiß, was dieser Marx ihr beigebracht hat?

„Ich habe gesehen, wie er gestorben ist, Janina.“

„Wie ... gesehen? Ob einer tot ist?!

„Ich habe es zufällig beobachtet. Er ist gefallen. Oben von seinem Balkon. An meinem Fenster vorbei.“

Sie starrt mich mit halboffenen Mund ungläubig an.

„Vom Balkon? Im achten Stock? Das überlebt doch keiner.“

„Ja, richtig, leider.“

„Ganz sicher? Dass er es ist?“

„Ich bin runter gelaufen, habe ihn zugedeckt, die Polizei verständigt.“

„Der Herr Marx? Wirklich tot?“

„Ja. Da kam jede Hilfe zu spät.“

Sie beginnt zu schnüffeln, fährt sich mit dem Jackenärmel über die Augen, schaut mich weiter an, unsicher, verstört.

„Wieso? Verstehe ich nicht. Keiner fällt einfach vom Balkon.“

„Janina, Mädchen, er ist tot, leider. Reicht das nicht?“

Unerwartet heftig fährt sie mich an:

„Sind Sie auch so einer? Der mich nicht ernst nimmt? Der alles verheimlicht?“

Sie zuckt etwas zurück, und ich befürchte schon, sie springt auf und läuft davon. Ich greife kurz nach ihrem Knie und ziehe es ein wenig in meine Richtung. Janina bleibt sitzen, dreht sich mir halbschräg zu.

„Okay, Du willst es genau wissen? Auch wenn es unschön wird?“

Sie schaut mich eindringlich an, nickt kaum sichtbar und erklärt mit dünner Stimme:

„Ja bitte, sagen Sie.“

„Höchstwahrscheinlich hat er sich fallen lassen. Freiwillig. Es war keine andere Person in der Wohnung, niemand hat ihn herabgestoßen. Er muss ziemlich viel getrunken haben, vorher, vielleicht Whisky. Die Polizei hat keine Schlüssel und keinen Ausweis bei ihm gefunden. Die mussten erst die Nachbarn befragen, um herauszufinden, wer er war und aus welcher Wohnung er kam.“

„Oh Gott, nein.“

Wieder kriechen ihr Tränen über die Wangen.

„Und jetzt? Vorbei? Einfach vorbei. Es geht nicht mehr weiter.“

Sie blickt leer vor sich hin, wischt den Ärmel durchs Gesicht.

„Was geht nicht mehr weiter, Janina?“

„Wie, was? Ach so, ist doch egal jetzt.“

Was geht den Kerl da neben mir mein Leben an?

Für sie bin ich fremd und uralt.

„Du mochtest Herrn Marx, richtig?“

Sie presst die Lippen zusammen, nickt sehr langsam, blinzelt mit ihren schwarzen und goldbraunen Augen in meine Richtung.

„Warum hat er mir nichts gesagt? Warum hat er ... einfach so ... weg?!

Ich brauche ihn doch, gerade jetzt, nach der langen Zeit.“

Oh, oh! Da steckt mehr dahinter als der überraschende Verlust eines Lehrers. Lass sie nicht gehen, Berkamp, bring sie zum Reden.

„Hat er dir Nachhilfe gegeben?“

„Wie? Ja, das auch.“

Dranbleiben, möglichst ungenau und unaufdringlich.

„Für dich war das sehr hilfreich, stimmt ’s?“

„Klar, Mann. Er hat sich um mich gekümmert, richtig gekümmert. Hat die ... hat die Polizei nach mir gefragt?“

„Die Polizei? Wieso sollte die nach dir fragen?“

„Ich dachte nur. Weil, die waren doch in seiner Wohnung, oder?“

„Ich weiß es nicht, Janina. Ich war nicht dabei. Ich habe meine Aussage gemacht, hier vor dem Haus. Später war die Kriminalpolizei da, hat aber nicht mit mir gesprochen. Ich glaube, die haben in der Wohnung nachgeschaut. Und das war es.“

„Wie, das war es?“

„Ich vermute, für die Polizei steht fest, dass es freiwillige Selbsttötung war. Kein Grund für weitere Ermittlungen.“

Wir schauen uns an, länger als bisher. Tja, Mädchen, was gibt es da noch zu sagen? Oder zu fragen?

„Sag mal, Janina, hast Du zufällig einen Schlüssel für seine Wohnung?“

„Nee, leider noch nicht. Er war ja bloß Mieter. Die Frau, der die Wohnung gehört, die ist ziemlich lahm. Die braucht ewig, bis sie den Extraschlüssel bestellt. Weil, wegen dem Sicherheitsschloss, da kann man den Schlüssel nicht einfach nachmachen lassen.“

„Also, Herr Marx wollte dir einen Schlüssel geben?“

„Hm, hm, ja.“

„Sind von dir Sachen in seiner Wohnung?“

Sie zögert, errötet und schaut zu Boden.

„Meine Lernsachen. Und mein Radio, so ein kleines gelbes Radio. Hab ich mal vergessen da.“

„Hat Herr Marx Angehörige? Eltern, einen Bruder, eine Schwester?“

„Keine Ahnung, nöh, glaub nicht, weiß ich nicht. Er wohnt ja erst seit zwei Jahren hier. Hab nicht gefragt.“

„Weißt Du, wo er vorher gewohnt hat?“

„In Weimar, das ist in Thüringen, grenzt glaube ich an Hessen.“

Für einen winzigen Augenblick hellt sich Janinas Miene auf.

„Er wollte mal mit mir da hinfahren. Auch so ein Versprechen, was keiner hält.“

„Also hat er ein Auto.“

„Ne, hat er nicht. Der fährt immer Fahrrad, lebt total öko. Wenn er will, mietet er ein Auto. Ist billiger und ganz praktisch, meint er.“

„Er war Lehrer, sagst Du? Hat er hier in der Gegend gearbeitet? Wo, an welcher Schule?

„IGS in Stierstadt.“

„IGS?“

„Integrierte Gesamtschule. Gesellschaftskunde, Sport und Deutsch und nachmittags Werken und Kunst.“

„Da hast Du ihn kennen gelernt?“

Janina nickt stumm.

Ein paar Kleinigkeiten, die sie mir beiläufig mitteilt, passen zu Monas Eindruck. Marx und dieses Mädchen waren sehr vertraut miteinander. Dennoch scheue ich davor zurück, das Verhältnis der beiden zueinander anzusprechen.

„Weißt Du, die Polizei überlegt, wen sie vom Tod benachrichtigen muss. Und wer sich um die Bestattung kümmert. Darf ich denen sagen, dass Herr Marx Lehrer in Stierstadt war, an dieser IGS?“

Janina springt auf.

„Ich muss weg. Nachhause.“

„Augenblick. Also, darf ich denen das sagen?“

„Das machen Sie doch sowieso.“

Ich zögere, bleibe unentschlossen sitzen, möchte gern mehr von ihr und über sie erfahren. Sie fasst den Lenker ihres Fahrrads, überlegt, dreht sie wieder mir zu.

„Bitte, sagen Sie nichts von mir, bitte. Das geht die nichts an. Das geht überhaupt keinen was an.“

„Warte doch mal, Mädchen, Janina. Ich heiße Robert Berkamp und wohne im vierten Stock, unter der Wohnung von Herrn Marx. Wenn Du noch Fragen hast oder reden willst ... komm vorbei, klingele einfach, viertes Stockwerk. Okay?“

Aber Janina hat ihr Fahrrad bereits umgedreht. Sie verzieht das Gesicht zu einem flüchtigen Wer-weiß-Blick, nimmt Schwung und radelt los. Ich stehe erst auf, als sie um die Wegbiegung hinter den Büschen verschwunden ist.

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten

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