Читать книгу Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach - Страница 7

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Eine kleine Ewigkeit stehe ich im halbdunklen Wohnzimmer und sinniere über Leben und Tod und – einmal mehr erstaunt – über die Wirren meines Beziehungslebens. Gedanken sind in kürzester Zeit zu großen Sprüngen fähig.

Mona ist mit ihrer Freundin Sabine ausgehen.

Mit Mahina in San Francisco habe ich vor gut vier Stunden telefoniert und keinen Grund, sie erneut anzurufen. An sie zu denken reicht, um mich in eine bessere Stimmung zu bringen. Recht hat sie; schuld am Tod des Herrn Marx sind die Leute, die Hochhäuser erfunden haben.

Um den letzten Rest unguter Gefühle loszuwerden, wechsele ich in mein Sportdress und lege mich zum Gewichtdrücken auf die Hantelbank in Monas Zimmer. Einen Teil des Raums haben wir mit einer langen, dunkelblauen, spanischen Wand abgetrennt. Die Dojo-Matte, der Boxsack und die Hantelbank sind dahinter verschwunden. Dennoch bietet das Zimmer reichlich Platz für Monas – und mehrere Nächte Mahinas – Bett, einen Regalschank mit Schreibplatte sowie eine Leseecke mit zwei bequemen Sitzgelegenheiten.

Eher beiläufig zwischen meinem Schnaufen und dem schabenden Bewegungsgeräusch der Hantelstange vernehme ich erst die Wohnungs-, kurz darauf die Zimmertür.

„Oh, oh, mein Hauptmann hat Probleme,“ stellt Mona halblaut fest, während sie sich an ihrem Schrank zu schaffen macht. Augenblicke später erscheint sie schräg vor mir hinter der spanischen Wand. Ich beende die Übung, richte mich keuchend auf.

„Huh! Guten Abend, schöne Frau. Danke für den scharfsinnigen Hinweis auf meinen Seelenzustand.“

„Hm, schöne Frau; der meint mich. Hör auf, Berkamp; mir brauchst Du nichts vormachen. Hanteln um die Uhrzeit ist alles andere als üblich. Was ist? Ich koche uns Tee und dann reden wir.“

Mona ist ein echter Sonnenschein.

Wenige Minuten später liegen wir wie gewohnt nebeneinander im Wohnzimmer auf der Ledercouch, ich längs ausgestreckt, sie quer halb sitzend mit angezogenen Beinen.

„War was ... hier im Haus? Unten steht ein Polizeiwagen, zivil, reichlich spät. Riecht nach Kripo, mit Funkgerätgequake durch den Fensterspalt. Erst dachte ich, Mammi wäre hier. Ist sie aber nicht, oder?“

„Nein, Corinna ist nicht hier, ist auch nicht beteiligt. Hattest Du mit Sabine wenigstens einen schönen Abend?“

„Heißt auf Deutsch, deiner war nicht so schön. Hast Du damit was zu tun, unten mit den Bullen?“

Ein altes Ehepaar macht das kaum besser.

Also berichte ich, was vorgefallen, wer wie herabgefallen ist. Möchte es bei einer Kurzfassung belassen. Doch Mona damit abzufertigen ist nahezu ausgeschlossen. Mühelos schüttelt sie etliche Fragen aus dem Ärmel; sachbezogen, folgerichtig, in angemessener Tonlage.

Sie ist nun mal die Tochter ihrer Mutter.

Obendrein angehende Kriminologin.

Anders als ich hat sie eine Vorstellung, wer Herr Marx ist, war.

„Du müsstest öfter mal Fahrstuhl fahren,“ empfiehlt sie.

Kleine Spitze gegen meine Gewohnheit, Treppen zu steigen.

„Dann triffst Du auch die Leute, immerhin unsere Nachbarschaft.“

Seit der ersten Begegnung redet Mona mich hartnäckig mit Berkamp an. Von ihr mag ich das sehr. In jüngster Zeit sagt sie gelegentlich auch „Bear“. Das hat sie von Mahina übernommen.

Als ich bereits denke, damit sei das Thema Marx beendet, drückt Mona mir ihren nackten Fuß gegen den Oberarm.

„Und ... was wird jetzt aus seiner Tochter?“

Oh. Tochter? Die Frage kommt völlig unerwartet.

„Welche Tochter? Laut Aussagen der Nachbarn lebte Marx allein, hat keine Tochter.“

„Na gut, dann hat er halt keine Tochter.“

„Wie kommst Du denn darauf, Mona? Auf eine Tochter?“

„Ach, weil ... da war ein junges Mädchen. Wir sind zwei- oder dreimal zusammen im Fahrstuhl gefahren, mit Marx. Wie die geredet haben, und er mit ihr umgegangen ist, sie angefasst hat. Ich dachte, so vertraut, das muss seine Tochter sein. Für seine Geliebte war die jedenfalls reichlich jung.“

Ich werde hellhörig. Das passt, aber nicht richtig.

„Wie sah das Mädchen aus? Etwa vierzehn Jahre, mittelbraune, halblange Haare, schlank, wache Augen ...?“

„Also kennst Du sie auch? Ja, schlank, schmal, Jeans, nettes Mädchen irgendwie. Nur, wenn das nicht seine Tochter ist ...?“

„Ich hab sie zufällig am Donnerstag vor dem Haus getroffen. Sie wollte zu ihm; aber er hat nicht aufgemacht. Ich glaube, sie heißt Jana. Ich dachte, vielleicht ist Marx ihr Lehrer.“

„Na schön, von mir aus. Aber wie die den angestrahlt hat?! Einfach nur Schülerin? Nee, abgelehnt.“

Mona verdreht die Augen in gespielter Verzückung, verzieht gleich darauf den Mund. „Wer weiß, was der ihr beigebracht hat. Ehrlich gesagt, das macht mich jetzt misstrauisch. Sagen wir besser neugierig.“

Mich auch, überlege ich.

Ihr Fuß schubst mich erneut an.

„Mann, überleg doch mal. Eine Tragödie vom Feinsten. Der Lehrer und die jugendliche Schülerin; eine heimliche Liebesbeziehung. Herzzerreißend, nur leider strafbar.“

Mona findet sichtlich Gefallen an ihren Gedankenspielen.

„Leichtsinnig wie sie ist, fordert sie von ihm, sich offen zu ihr zu bekennen. Er gerät in Panik. Kapiert, welche Schande er über sich und das Mädchen bringt. Abgesehen von dem sicheren Rauswurf als Lehrer und der Aussicht auf Knast. Also entscheidet er sich gegen den Trau- und für den Freiflugschein. Und tut allen anderen einen Gefallen. Wie das Wort zutreffend sagt.“

Ich muss loskichern.

„Mona-Mädchen, Du redest ein Zeug.“

Mona springt unerwartet auf, streckt sich kurz.

„Wieso? Hast Du eine bessere Erklärung? Mach los, trink aus oder lass den Tee stehen!“

„Wieso? Was gibt das?“

„Das will ich jetzt wissen. Wir gehen hoch, reden mit den Kollegen.“

„Welchen Kollegen? Wo oben?“

„Na ja, die Kripo-Leute meine ich. Die sind bestimmt in der Marx-Wohnung. Wir fragen einfach, was Sache ist. Und wenn die mauern oder pampig werden, hetzen wir ihnen Corinna auf den Hals. Wozu haben wir die denn?!“

„Mona, es ist gleich halb elf in der Nacht.“

„Mann, Berkamp, Verbrechen kennt keine Uhrzeit. Wenn Du nicht willst, ich gehe eben allein.“

*

Ich streife mir ein Jackett über und schlüpfe in die Schuhe. Mona mustert ihre Frisur und ihr Gesicht im Dielenspiegel.

„Ich bin tatsächlich sehr hübsch, widersprich mir nicht,“ befindet sie.

„Sage ich doch.“

„Trotzdem hast Du mich immer noch nicht verführt. Irgendwas stimmt mit dir nicht. Jetzt, wo Mahina nicht da ist ...“

„Halt den Mund, Du Schatz.“

„Feigling.“

„Einverstanden.“

Wir steigen durchs Treppenhaus hinauf in den achten Stock.

„Halt, Mona, was sagen oder fragen wir jetzt?“

„Fällt mir schon was ein, keine Bange.“

Die Tür zu Herrn Marx’ Wohnung ist geschlossen. Wir halten den Atmen an und lauschen auf Geräusche von innen. Doch alles ist still, das kleine Guckloch in der Tür schwarz.

Kurzentschlossen klingelt Mona zweimal. Niemand antwortet; die Tür bleibt verschlossen. Für mich fühlt sich die Wohnung leer, unbelebt an – durch die Tür hindurch.

Erneutes Klingeln, wieder keine Antwort, kein Laut aus der Wohnung.

Mona zieht eine Schnute.

„Blöd, wir haben die Bullen verpasst. Jetzt sind wir genau so klug wie vorher.“

„Irrtum, Herzchen. Schau dir die Tür an. Siehst Du auch, was ich nicht sehe?“

„Stimmt, da klebt kein Polizeisiegel. Hach, bemerkenswert. Das heißt, ... für die ist der Fall abgeschlossen. Die Wohnung gilt nicht als gesicherter Tatort.“

„Richtig, Frau Kommissarin. Das wiederum bedeutet ...“

„Die Kollegen schließen eine Gewalttat, also Fremdverschulden bei dem Todessturz des Herrn Marx aus,“ setzt sie meinen Satz fort.

„Womit die Annahme einer Selbsttötung als bestätigt gelten kann,“ füge ich hinzu.

„Na gut,“ bescheidet Mona sich. „Wir haben es versucht, immerhin. Besser als faul auf dem Hintern hocken und rumrätseln.“

Wir trotten stumm hinab ins vierte Stockwerk.

Trotzdem, Monas Einwand von vorhin klingt in mir nach.

Vertraut, wie Vater und Tochter; oder wie ein Paar, dass sich liebt. Merkwürdig ist das schon, was sie berichtet hat.

Ihr muss es ähnlich gegangen sein wie mir. Während wir in der Diele die Schuhe ausziehen, überlegt sie laut:

„Ich bleibe dabei: Das fügt sich nicht zu einer klaren Sache. Oder spinnen wir einfach nur, sehen Gespenster, wo keine sind?“

Ich gehe ins Wohnzimmer, trinke den Rest meines lauwarmen Tees. Mona steht gähnend im Türrahmen.

„Berkamp, lass uns das selbstmörderische Verbrechen morgen aufklären. Ach nee, lieber nicht, morgen ist Sonntag. Da befindet sich mein kriminalistischer Scharfsinn im Ruhezustand. Aber am Montag, ich frage Mammi; die kann sich ja mal bei den zuständigen Kollegen umhören. Und Du ... Du könntest deine Cassandra-Intuition fragen. Wäre hilfreich zu wissen, was die dazu sagt.“

Mona ist eine der wenigen Personen, die von Cassandra weiß, meiner übersinnlichen Begleiterin. Deren tiefdunkelblaue Augen erscheinen vor meiner Stirn, wenn ich sie rufe. Gelegentlich auch ungefragt, wenn ich meditiere oder kurz vor dem Einschlafen

„Einspruch, Mona. Morgen nehme ich mir ebenfalls frei. Übrigens, Du bist mit Kochen dran. Und wenn Du mit Corinna sprichst, sag ihr einen lieben Gruß von mir.“

Was folgt, ist absehbar.

Mona kommt zu mir, nimmt mir die Teetasse aus der Hand und drückt mir ein Küsschen auf die Wange.

„Ooch, Berkamp, Herzblatt. Wollen wir morgen nicht lieber an den Rhein fahren? Du darfst mich auch zu einer leckeren Forelle einladen.“

„Überredet. Aber nur, wenn Du mich vor dir ins Bad lässt.“

„Aye, aye, Sir. Fall nicht ins Klo und schlaf gut.”

„Danke, Du auch, Mona.”


*

Am frühen Sonntag Nachmittag auf einer sonnigen Restaurantterrasse in Eltville, nach einem schmackhaften Lachsauflauf, bei Kirsch-Eis und Espresso, bestätigen Mona und ich uns gegenseitig: Unser Drang, im „Fall“ Marx eingehender zu ermitteln, hat spürbar nachgelassen. Als Freizeit-Kriminalisten steht uns dieser Ermessensspielraum zu. Wozu sich den Kopf zerbrechen, wenn andere Leute dafür bezahlt werden?!

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten

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