Читать книгу Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach - Страница 15

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Der Schauer trifft mich, bevor ich etwas sehe. Deutlich spürbar. Noch ehe ich die Tür langsam halb geöffnet habe. Mir ist, als höre ich einen stummen Schrei. Eindringlich flehend. Zugleich berührt etwas Unsichtbares mein Gesicht und meine Brust. Wie ein schmaler Windhauch, ein fühlbarer Druck in der Luft, der mich zu umschließen scheint und an hellgrauen, durchscheinenden Nebel erinnert. Für einen Augenblick lässt mich die Berührungsempfindung an meinen Sinnen zweifeln. Ein Luftzug der stillstehenden Tür kann es nicht gewesen sein. Zugleich fährt mir ein kaltes Zittern in die Knochen.

Ich weiche unbewusst einen halben Schritt zurück, schließe kurz die Augen, atme tief durch, spanne die Schultern an. Mit dem Jackenärmel drücke ich die Tür vorsichtig ganz auf.

Ungewöhnlich, hat die Aschauer gewarnt?

Mir fallen sicher treffendere Wörter ein, wenn ich den Sinn hätte, danach zu suchen. Ich fürchte, ich blinzele mehrmals, um mir des Anblicks bewusst zu werden. Dann fällt es mir schwer, den Blick von ihr zu nehmen.

Die Frau liegt auf einem etwa Knie hohen, fast quadratischen, mit schwarzem Samt oder Wildleder bezogenen Bett. Ihr schlanker Oberkörper ist verzogenen. Ihre weit ausgespreizten Arme und Beine sind mit festen, schwarzen Lederschlaufen an breiten, dunkelgrauen Nylongurten nahe den Bettkanten gefesselt. Ihre Brüste quellen ungleich aus einem glänzenden, schwarzen Halbschalen-BH. Ansonsten ist die Frau völlig nackt, ihre Schamgegend und das weite Dreieck ihrer Oberschenkel wie dargeboten für jeden, der den Raum betritt.

In ihrem verzerrten Mund steckt eine tischtennisballgroße, schwarze Gummikugel an einem schmalen Ledergurt, der um den Kopf läuft. Ein Knebel, wie ich ihn im Schaufenster eines Erotik-Ladens in San Francisco gesehen habe.

Ich muss mehrere Male Luft holen, bevor ich das Zimmer weiter betreten kann. Wie auf Zehenspitzen, bis ich mich innerlich einigermaßen gesammelt habe. Die Raumluft ist warm genug, um sich wenig bekleidet darin aufzuhalten. Dennoch fühle ich mich frösteln. Der Anblick aus kurzer Entfernung vertreibt den Funken erotischer Regung, der mich für einen winzigen Augenblick gepiekst hat.

Die Augen der Frau, stumpf matthellgrau im mäßigen Schein aus zwei senkrechten Lichtleisten an der Wand links und rechts des Bettes, starren ins Leere. Das Augen-Make-up ist verschmiert, eine schwarze Langhaarperücke seitlich verrutscht. Mehrere Strähnen haben sich schräg über Stirn und linker Wange festgesetzt.

Als ich neben ihr stehe, zuckt es in meiner linken Hand. Gedankenlos will ich der Frau am Hals den Puls fühlen. Statt dessen lege ich die Rückseite des linken Mittelfingers sacht auf ihren nackten Oberarm. Geringfügig kühler. Bei normaler Raumtemperatur verliert der Körper nach Todeseintritt ungefähr zwei bis drei Grad Wärme innerhalb der ersten zwei Stunden; danach zunehmend mehr. Steht sinngemäß im FBI-Lehrbuch „Death Investigations“; mein erlesenes Fachwissen.

Sie hat noch gelebt, denke ich, vor vielleicht zwei Stunden.

Ich spüre ein Welle von Schamgefühl in mir aufsteigen, trete wieder einen Schritt zurück. Welches Recht habe ich, diese fremde Person in ihrer entwürdigenden Aufmachung und Lage zu berühren, zu betrachten wie einen seltsamen Fundgegenstand?! Eine annehmbare Antwort will mir nicht einfallen. Zu gehen und die Frau einfach so liegen zu lassen schaffe ich ebenfalls nicht.

Draußen sitzt diese Frau Aschauer.

Was denkt die eigentlich, was ich tun kann, was sie selbst nicht auch machen könnte? Um Hilfe hat sie mich gebeten. Wo es nichts mehr zu helfen gibt.

Was außer verlegene Trostworte ...?

Anteilnahme, wenigstens die zu zeigen kann ich versuchen. Verständnislose Anteilnahme für eine von Claudias Freundinnen, mit der ich seit Jahren nichts zu tun hatte. Zumal der nichts zugestoßen ist, sondern der Toten auf dem Bett vor mir.

Eine Eingebung löst mich aus meiner Gedankenstarre.

Ja, das tue ich!

Hoffnungslos; auch wenn Frau Aschauer ihn genannt hat – der Name der Toten will mir nicht einfallen.

Bitte gestatten Sie meine Anwesenheit, flüstere ich kaum hörbar in ihre Richtung. Was auch immer Ihnen geschehen ist, es tut mir leid.

Die nächste Eingebung folgt wie zwangsläufig.

Ich will in Ihrer Nähe bleiben, fremde Frau, wenn in Kürze die unweigerlich notwendigen Amtshandlungen über Sie hereinbrechen, verspreche ich in Gedanken. Ich werde dazu beitragen, dass Ihnen, fremde Frau, gegen den verstörenden Anblick, ein Rest von Achtung und Würde bleibt. Und Gerechtigkeit zuteil wird, falls das noch geht.

Als hätte ich ihn zu lange angehalten, muss ich tief Atem holen. Erleichtert fühle ich mich nicht, empfinde aber eine Art Einverständnis, anwesend zu sein.

Die verrutsche Perücke verlangt danach, ordentlich hingerückt zu werden. Die ungleich entblößten Brüste fordern geradezu, anstandsgemäß bedeckt zu werden. Der Knebel in ihrem Mund lässt Ekel in mir aufsteigen. Als ich mich zu innerem Abstand zwinge, spüre ich, wie viel Zurückhaltung es mich kostet, die Tote unverändert zu lassen und mich auf des Hinsehen zu beschränken. Als könnte mir die Erklärung für ihren Zustand ins Auge springen.

Soweit es ihre verspannte Lage erkennen lässt, ist die Frau ziemlich hübsch und körperlich gut gebaut. Welch ein absonderlicher Gedanke, für den ich mich zu schämen beginne. Nichts dergleichen zählt mehr in ihrer Welt. Was ist sie nun? Ein Mensch, eine Frau?

Ein Körper, der daliegt. Still, völlig reglos, unwiderruflich leblos, äußeren und inneren Abstand fordernd.

Welch eine Schande, dieser Frau das Leben zu nehmen, fährt mir durch den Kopf. Mit leichtem Erschrecken der nächste Gedanke:

Ich kenne mich etwas aus mit kriminalistischer Denkweise.

Habe ich vor einigen Minuten im Garten getönt.

Wirklich?

Etliche englischsprachige Fachbücher voll Kriminalitätstheorie sowie über Vorgehensweisen bei der Tatortuntersuchung besitze ich, habe fast alle aufmerksam gelesen. „Meine“ Hauptkommissarin hat mir einige Grundsätze aus ihrer praktischen Arbeit beigebracht. Drei Menschen habe ich – in erwiesener Notwehr – lebensgefährliche Verletzungen zugefügt. Sogar den Anblick von Toten musste ich schon verkraften. Vor Jahren ein fremdes Verkehrsopfer am Straßenrand. Neulich einen Lehrer, der vom achten Stockwerk auf die Wiese neben unserem Wohnhaus fiel.

Im vergangenen Oktober in der Rechtsmedizin von San Francisco, ein dreißigjähriger Mann. Zufällig war ich mit ihm in eine gewaltsame Auseinandersetzung um ein kleines Mädchen geraten. In der darauffolgenden Woche zu sehen, was vom Gesicht des Chinesen übrig geblieben war, hat mir eine Spur Genugtuung verschafft. Er war beauftragt worden, mich umzubringen. Während er mir dem Hotel gegenüber auflauerte, hat ein hilfreicher Freund ihn überrascht und kopfüber vom Hausdach fünf Stockwerke abwärts auf den Gehwegbeton geschickt. Und sein Gewehr mit Zielfernrohr anschließend im Pazifik versenkt.

Schließlich, vor Monaten, die „Rache-Hexe“, die Monas Halsader aufschlitzte. Tage später – ein hässliches Loch zwischen Augen und Nase, das war es für sie. Für mich vor allem eine sehr große Erleichterung, ohne eine Sekunde des Bedauerns. Die Frau hatte gewollt und bekommen, worauf sie es angelegt hatte.

Aber jetzt, eine fremde Frau?

Unwillkürlich verstehe ich den Unterschied zwischen beteiligt und betroffen. Bei den Ereignissen, an denen ich – fast immer weitgehend unfreiwillig – beteiligt war, nahm ich die Gewalt und ihre Folgen eher bruchstückhaft wahr, habe sie anschließend unerwartet gut weggesteckt. Jedenfalls kommt es mir so vor, im Nachhinein.

Selbst Monas offen blutende Halsschlagader und ihre fahler werdenden Augen – dicht vor mir in minutenlanger Panik – habe ich weitgehend sicher in eine tiefe Ecke meiner Erinnerung verbannt.

Gewöhnst du dich dran? Wirst gleichgültiger? Keine Spur.

Und jetzt, hier? Betroffen, und zwar voll! Vielleicht, weil du unbeteiligt warst; bis eben, und keine Erklärung hast für das, was du jetzt siehst.

So nah, unter derart fremdartigen Umständen? Du denkst, aus Fernsehkrimis ist dir ein solcher Anblick vertraut. Schwachkopf. Dein Zuschauerwissen sieht immer mit; selbst wenn das Opfer noch so grauslich ins Bild gesetzt wird. Vergiss es! Das hier ist Wirklichkeit, nicht die Zauberwand eines Bildschirms.

Das hier ist die harte Tatsache des endgültigen Widerrufs des Lebens. So unmittelbar, dass du es nicht wahrhaben willst, dich zutiefst dagegen sträubst. Ich schüttele mich zurück in die Gegenwart, zwinge mich zum gefassten Hinsehen. Fühle mich in einer schwer zu erklärenden Weise herausgefordert. Weil ich eben ein Versprechen gegeben habe? Verträgt sich kriminalistisches Denken mit der Würde der toten Frau? Oder erweist sich erst in meinem weiteren Verhalten, wie weit mein Versprechen trägt?

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten

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