Читать книгу Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach - Страница 14
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ОглавлениеDie „Schöne Aussicht“. Gärten mit hübschen Ein- und Zweifamilienhäusern säumen die sanft geschwungene, ruhige Straße. Weiter hinten Häuser, die man als Villen bezeichnen kann. Ungefähr seit den 1960-er Jahren bebaut, prägt sattes Grün die Gegend. Links und rechts der schmalen Gehwege stehen hohe Hecken, dichtes Gebüsch und stattliche Bäume, hinter denen viele der Häuser wie versteckt liegen. Auf der Straße und vor den Garagen übertrifft die Zahl der parkenden Geländesportwagen und Oberklasselimousinen die der gewöhnlichen Autos.
Die Frau, die mich am Straßenrand vor der Einfahrt eines Gartengrundstücks erwartet, muss Dr. Aschauer sein. Ich biege langsam in die fast zwei Meter zurückgesetzte Einfahrt ein, parke halb auf dem Gehweg.
Mein erster Eindruck von Sandra Aschauer: Verheult.
Ihre Augenränder sind gerötet, die Wangen wirken eingefallen. Mit der jungen Frau in meiner Erinnerung an Claudias Hochzeit vor etwa zehn Jahren passt das Gesicht nur schwer zusammen.
Ich nehme mir Zeit beim Aussteigen, betrachte die Örtlichkeit vor mir, während ich um den Vorderwagen gehe. Die hohen Birken und dichten Büsche rechts des Einfahrtsbereichs dürften über die wahre Größe des Grundstücks hinwegtäuschen. Ein gutes Stück zurückgesetzt liegt ein weißes, eingeschossiges Haus, das mir trotz eines flachen, gleichwinkligen Schrägdachs wie ein Bungalow erscheint. An der rechten Seite ragt ein breiter Steinkamin über das mit grauem Schiefer gedeckte Dach hinaus.
Links und rechts vor der Schnauze meines BMW hocken Hüft hohe Pfosten aus Grünstein; dazwischen versperrt ein verzinktes Gittertor die Zufahrt zu einer zurückgesetzten Garage. Die Eisentür neben dem rechten Torpfosten steht offen. Ein mit Steinplatten ausgelegter Weg führt zu dem breiten Eingang in der Mitte der Vorderseite des Hauses. Den Eingangsbereich bilden drei große, weiße Tür- und Fensterflächen, in jeweils acht kleinere Scheiben geteilt und bis kurz an das Betonfundament hinabreichend. Sie geben dem Gebäude ein klares, harmonisch gestaltetes Aussehen. Der dicht bewachsene Garten und das Haus machen einen gepflegten, wohlhabenden Eindruck.
*
Frau Dr. Sandra Aschauer. Trotz ihres verheulten Gesichts steht eine gefällige Erscheinung mit einer selbstbewusste Ausstrahlung vor mir. Ihre Haare, von goldblond bis hellbraun und seitlich links lose gescheitelt, schwingen in sanften Wellen bis hinab auf die Schultern.
Stimmt, im Näherkommen, wenn du sie dir ausgeruht und zurechtgemacht vorstellst, ist ihr Gesicht sehr hübsch. Eine maßvoll hohe, glatte Stirn, ebenmäßige, braune Augen und Augenbrauen und eine nette, gerade Nase. Beim Sprechen blitzen beneidenswert strahlende und makellose Zähne zwischen ihren Lippen auf. Um den Mund spielt ein entschlossener, fast harten Zug; oft am Ende eines Satzes, wie sich bald zeigt.
Es gibt weibliche Gesichtsformen, die mir spontan gefallen, mich sozusagen blind anziehen, gleichgültig, welche Persönlichkeit dahinter steckt. Frau Aschauers Gesicht gehört dazu. Sie könnte gut eine ältere Schwester der Sängerin Shakira sein, finde ich. Frisch, offen, patent, das Gegenteil von selbstzufrieden oder behäbig.
Super weiblich erscheint mir die Frau nicht. Kein wonniger Schmollmund, kein üppiger Busen, keine Hüften, die den Blick auf sich ziehen. Was mir nach Claudias Vorwarnung in meinen dummen Kopf gekommen ist.
In ihrem kurzärmeligen, schwarzen Pulli und dem mittelbraunen Rock sieht die Aschauer unaufdringlich gut aus. Oder ein wenig besser; auch dank des Rockes. Stimmt, stramme, wohlgeformte Wanden hat sie. Die zweifach um den Hals geschlungene, weiße Perlenkette, die bis in den kurzen V-Ausschnitt ihres anschmiegsamen Pullis reicht, gibt ihrem Auftreten eine Note selbstverständlicher Eleganz. Blickfangend und etwas ungewöhnlich finde ich die große Rolex-Armbanduhr in typisch männlichem Edelstahl an ihrem linken Handgelenk.
Ein kurzer, angenehmer Händedruck.
„Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Herr Berkamp. Sie haben sich wenig verändert. Erinnern Sie sich? Claudias Hochzeit?“
„Offen gestanden, Sie sehen jetzt anders aus, wesentlich besser als damals, falsch, als in meiner Erinnerung.“
Die kleine Schmeichelei kann nicht schaden.
Frau Aschauer lacht kurz und etwas abwertend.
„Das finde ich auch. Damals hatte ich einen Bubikopf und hab nicht sorgsam genug auf meine Ernährung geachtet.“
„Stimmt; was eine veränderte Frisur ausmacht. Gut, zur Sache. Frau Aschauer, weshalb ...“
Sie unterbricht mich mit einem unsicherem Lächeln.
„Sie dürfen ruhig Sandra zu mir sagen, als Claudias Freundin ...“
„Danke, lassen Sie uns das am Ende des Tages entscheiden. Damit wir uns gleich richtig verstehen: Ich bin nicht die Polizei, kenne mich aber etwas aus mit kriminalistischer Denkweise. Wie auch immer es jetzt weitergeht, Frau Aschauer; Sie beantworten meine Fragen und tun, was ich sage. Wenn ich das Gefühl habe, dass Sie mir wichtige Dinge verschweigen oder die Unwahrheit sagen, steige ich augenblicklich in mein Auto und fahre weg. Einverstanden?“
Ganz zufällig spiele ich dabei am linken Bund meiner Lederjacke herum. Das öffnet die Vorderseite weit genug, um ein Stück der schwarzen Pistole in dem dunkelgrauen Halfter unter meinem linken Arm zu zeigen. Der Anblick macht den meisten Leute unaufdringlich klar, dass mit mir nicht zu spaßen ist.
„Ja, selbstverständlich, einverstanden, Herr Berkamp. Bitte, ich habe nur eine Bedingung; ich erwarte strikte Vertraulichkeit ihrerseits. Das müssen Sie mir versprechen.“
„Was halten Sie davon? Ich betrachte Sie als Coaching-Kundin und versichere Sie meiner Verschwiegenheit. Keine Angst, ich schicke Ihnen keine Honorarrechnung. Erste Frage: Wo waren Sie während der vergangenen drei bis vier Stunden?“
Sie reißt erschrocken die Augen auf.
„Was soll das? Denken Sie, dass ich ...?“
„Eine einfache Frage mit der Bitte um wahrheitsgemäße Antwort.“
Um von Anfang an klarzustellen, wer hier das Sagen hat.
Sie schüttelt kurz den Kopf, atmet entrüstet aus.
„Sie sind nicht gerade rücksichtsvoll,“ befindet sie. „Ich war in Frankfurt Höchst, wenn Sie das beruhigt.“
Ich schaue sie nur ungerührt an.
„Bei der Firma Habicht, mein BMW-Händler,“ schiebt sie nach. „Genaugenommen war ich in einem BMW X-1 auf der Autobahn in Richtung Wiesbaden. Ich suche einen neuen Wagen, und wir haben eine ausgedehnte Probefahrt gemacht, der Verkäufer und ich. Bis zum Rastplatz Bad Camberg.“
Frau Aschauers Mimik und Tonfall wirken unerfreut, aber stimmig. Ich halte ihre Antwort für glaubwürdig. Nach einem der ersten Lehrsätze in jedem Kriminalistenhandbuch ist die Person, die ein Gewaltopfer meldet – oder findet –, zum engeren Kreis der Tatverdächtigen zu rechnen. Häufiger als man ahnt, verständigen planvoll handelnde Täter selbst die Polizei in der Hoffnung, betroffen und unverdächtig zu erscheinen.
Wir stehen, ein paar Schritte ins Grundstück hinein, neben den Birken. Ich mache keine Anstalten, ins Haus zu gehen.
„Wohnen Sie in diesem Haus?“
„Nein, gegenüber; ich wohne in dem Haus da. Sie müssen wissen, ... das alles dürfte für Sie etwas ungewöhnlich erscheinen, aber ...“
„Sie besitzen einen Schlüssel zu dem Haus hier?“
„Ja, natürlich. Verstehen Sie, ich muss Ihnen das erklären ...“
Ich unterbreche sie erneut. Was auch immer mich gleich erwartet, hat Frau Aschauer heftig erschüttert. Das klang in ihrem Anruf vorhin glaubwürdig durch. Doch seitdem ist genug Zeit vergangen, um sich Erklärungen zurechtzulegen. Aussagen, die sie in ein gutes Licht rücken. Oder von ihr ablenken könnten. Falls die Frau in das Geschehen verwickelt ist. Oder falls die Ermittlungen Dinge zutage fördern, die sie in ein schlechtes Licht rücken, auch wenn sie selbst nichts mit dem erschütternden Ereignis zu tun hat.
Ich will mich eigenen ersten Eindrücken überlassen, unvorbereitete Antworten hören. Zudem soll mein Drittes Auge Gelegenheit haben, sich auf die Person einzuschwingen und krasse Lügen zu spüren. In dem Fall empfinde ich ein kreisendes Kribbeln etwas oberhalb der Mitte meiner Augenbrauen. Ein weitgehend zuverlässiges Signal, dass mir gelegentlich allerdings erst einige Sekunden später bewusst wird, wenn ich in Gedanken woanders bin.
„Wer sonst noch besitzt einen Schlüssel zu dem Haus?“
„Frau Kermaz. Das ist unsere Pflegehilfe, auf Deutsch Putzfrau. Sie kommt aber nur montags und donnerstags Vormittag für zwei, drei Stunden. Seit Jahren und ganz sicher zuverlässig. Wollen wir nicht hinein ...?“
„Gleich. Wie viele Personen leben in dem Haus?“
Frau Aschauer schüttelt sich wie einem Schreck getroffen, schluckt gegen aufkommende Tränen an, holt ruckartig Luft.
„Leben? Eine Person. Petra Wernecke, sechsunddreißig Jahre alt.“
„Dann gehen wir jetzt rein.“
Ohne Schlüssel ist die Tür nicht zu öffnen. Als Frau Aschauer einen von mehreren Schlüsseln an ihrem Schlüsselbund in das Türschloss unter einem breiten Knauf steckt, zittern ihre Hände.
„Wir müssen die Treppe runter, ... in den Keller, ... das Zimmer unten gleich gegenüber.“
„Okay, Frau Aschauer. Bitte bleiben Sie hinter mir und sagen nichts zu dem, was geschehen ist.“
*
Im Haus ist es kühl, verglichen mit der warmen Außentemperatur. In dem breiten Eingangsraum riecht es ... sauber, allenfalls eine Spur nach Steinfußboden und Reinigungsmittel aus dem breiten flauschigen, dunkelrot und dunkelblau geblümten Teppich. Durch eine breite Windfangtür zwischen zwei seitlichen Feldern, ebenfalls mit eingelegten, kleineren Glasscheiben, betreten wir den eigentlichen Flur; Marmorfußboden, weitgehend mit Teppichen bedeckt. Links hinter einer Zimmertür führt eine breite, offene Marmortreppe nach unten, ein Stück weiter nach oben. Durch ein schmales, senkrechtes Band aus Glassteinen fällt gedämpftes Licht auf die Stufen.
„Da, die Treppe runter.“
Im Vorraum am Fuß der Kellertreppe zögert Frau Aschauer.
„Warten Sie, ich schalte das Licht ein. Was jetzt kommt ... Sie sollten sich ... das wird Ihnen ungewöhnlich erscheinen, aber ...,“ erklärt sie mit belegter Stimme.
Ich streife die Latex-Handschuhe über.
„Schon gut. Also, machen Sie Licht.“
Ich lasse ihr den Vortritt, atme einmal kräftig durch. Okay, nur wahrnehmen, nicht sprechen, was auch kommt. Und nichts anfassen.
Frau Aschauer öffnet die Tür gegenüber der Treppe einen Spalt breit, greift halb zur Seite gedreht und mit dem Blick auf mich gerichtet nach einem Lichtschalter rechts hinter der Tür und tritt sogleich zurück in den Vorraum.
„Ich mag sie nicht noch einmal so sehen,“ bekennt sie mit feuchten Augen und zitterndem Kinn und macht einen Schritt zur Seite.