Читать книгу Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4 - Группа авторов - Страница 25
Wetterleuchten in der Arbeitswelt
ОглавлениеIn der Mitte des Jahrzehnts brummte die Wirtschaft wieder wie in den besten Jahren des deutschen Wirtschaftswunders. Das Flaggschiff der Oberhausener Industrie, die HOAG, konnte im zweiten Quartal 1964 einen neuen Produktionsrekord vermelden: Erstmals waren in einem Monat mehr als 200.000 Tonnen Rohstahl erzeugt worden.106 Die Ruhrchemie kündigte eine Großinvestition an, den Bau einer neuen Salpetersäurefabrik. Wie in der gesamten chemischen Industrie wurde Öl zum wichtigsten Grundstoff. Die Verwendung von Kokereigas, das in riesigen Röhren in das Werk in Holten transportiert wurde, lief aus.107 Die Babcockwerke konnten bei der Jahreshauptversammlung Anfang 1965 stolz darauf verweisen, dass sie als eines der ersten Unternehmen in Deutschland die Nutzung der Atomenergie in ihr Programm aufgenommen hatten. Für das Forschungsschiff „Otto Hahn“ lieferte Babcock den Reaktor. Nur einen Schönheitsfehler hatte die Jahreshauptversammlung: Sie fand nicht in Oberhausen, sondern in Duisburg statt.108
Hauptproblem bei der HOAG, wie bei der Oberhausener Industrie insgesamt, schien der Mangel an Arbeitskräften zu sein. In der Metallindustrie von Oberhausen fehlten im Herbst 1964 mehr als 3.000 Arbeitskräfte. Auch die Bauindustrie suchte dringend Facharbeiter. Selbst im Bergbau gab es viele offene Stellen. Die Bilanz des Oberhausener Arbeitsamtes für das Jahr 1964 sah so aus: In 14.400 offene Stellen wurden 10.100 Arbeitskräfte vermittelt, darunter 3.280 Frauen und 3.250 Ausländer. Die Hälfte der Männer, die einen neuen Arbeitsplatz bekamen, waren also Ausländer.
Die meisten „Gastarbeiter“ bei der HOAG stammten aus Spanien (437 neben 213 Griechen und 140 Türken von insgesamt noch 11.754 Arbeitern). Für sie stellte die Wohnbaugesellschaft Dümpten, eine Tochter der HOAG, Anfang 1965 im Knappenviertel ein achtgeschossiges Wohnheim fertig. Dadurch schienen für die Spanier alle Probleme erst einmal gelöst. Erstmals wurden ab Herbst 1964 auch Gastarbeiter aus Portugal angeworben. Und noch eine Premiere gab es im Frühjahr 1965: Auf der Zeche Concordia wurde ein italienischer Bergarbeiter in den Betriebsrat gewählt.109
Im Quartalsbericht des Arbeitsamtes war aber kurz danach schon davon die Rede, dass man die Anwerbung von Gastarbeitern abbremsen müsse. Im Bergbau ging die Nachfrage nach Hauern und Schleppern zurück. Als erstes sollte sich die neue Situation für die „Ferien-Bummelanten“ schmerzhaft auswirken. Einige Zechen würden die Arbeiter, die zum Ferienende nicht pünktlich wieder antraten, nicht wieder einstellen.110 Das ist ein erstaunlicher Hinweis: Hieß das, dass ihre Arbeitsverträge ausliefen, wenn sie zum Urlaub in ihre Heimatländer fuhren?
Anders als bei der Metallindustrie oder der Großchemie waren beim Bergbau die Absatzprobleme auch im Boom-Jahr 1965 nicht zu übersehen. Ab 1966 verschlechterte sich auch die Auftragslage bei Metall und Chemie. Die erste echte Konjunkturkrise der Nachkriegszeit schlug in diesem Jahr voll zu: Feierschichten im Bergbau, Flaute in der Eisen- und Stahlindustrie, Rückgang der Einwohnerzahl und als Folge Rückgang der Kaufkraft und sinkender Wohnungs- und Straßenbau – vor diesem Hintergrund mussten die Stadtväter jetzt einen Haushalt zurechtzimmern. Bei einem Schuldenstand von 200 Millionen DM versuchten sie, wenigstens noch die Seniorenwohnanlage der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung zu retten. Zum ersten Mal erschien am Horizont das Gespenst des Staatskommissars, der der kommunalen Selbstverwaltung den Garaus machen würde.111