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Der Wandel in Oberhausen hat eine lange Geschichte

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1890 wechselte der Ruhrbergbau großflächig über die Emscherniederung nach Norden und löste damit auch im Oberhausener Raum eine neue Dimension von Bergbau- und Siedlungstätigkeit im Sterkrader und Osterfelder Norden aus.

1902 ging der große mittelständische Eisenhersteller „AG für Styrumer Eisenindustrie“ mit kurz zuvor noch 700 Beschäftigten in der Mitte der Oberhausener Innenstadt in Liquidation. Die Aufgabe des Werkes machte den Weg frei für die großstädtische Bebauung des Quartiers vom Bert-Brecht-Haus bis zum Amtsgericht, von der Elsässer Straße bis zum Elsa-Brandström-Gymnasium. Das Ende der Styrumer Eisenindustrie ist Spiegelbild eines rasanten Konzentrations- und Kartellierungsprozesses in der deutschen Schwerindustrie. Von 1890 bis etwa 1925 wuchsen einige Unternehmen zu Weltkonzernen. Krupp, Thyssen, Stinnes und auch die Gutehoffnungshütte (GHH) sind die bedeutendsten Innovationsträger der Montanindustrie an der Ruhr. Die Oberhausener GHH erweist sich mehrmals als Trendsetter. Zuerst bildete sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als erstes Unternehmen der Ruhrwirtschaft den vertikalen Montankonzern von der Kohle über Eisen- und Stahl bis zur Metallverarbeitung erfolgreich aus. Seit 1900 errichtete die Sterkrader Brückenbauanstalt Bauwerke in der ganzen Welt. 1921 dann bildete die GHH, begünstigt von den vollen Kassen der Inflationszeit bei gleichzeitigem Drang in die Sachwerte, aus der starken Position der Konzernmutter den Metallkonzern mit der MAN, der bis heute trägt. Oberhausen steht damit wiederholt an der Spitze der internationalen Wirtschaftsentwicklung.

1924 endete mit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg eine stabile industrielle Hochkonjunktur und die Schwerindustrie im Ruhrgebiet wurde erstmals mit einer Konkurrenzsituation konfrontiert, in der weltweite Überkapazitäten einen Preisverfall bewirkten.

1927 entstand mit der Ruhrchemie im Holtener Bruch in Oberhausen ein neues Großunternehmen, und nun sogar auch noch in einer ganz neuen Branche, der Chemie, die für die Menschen im Oberhausener Norden bislang keinerlei Bedeutung besessen hatte.

Zwischen 1930 und 1932 wurden in der Oberhausener Stadtgeschichte im Zuge der Weltwirtschaftskrise erstmals Bergbaubetriebe geschlossen. Dass ab dem 1. April 1931 auf den Zechen Oberhausen im Osten der GHH-Eisenhütte an der Essener Straße, oder Hugo im Norden, dem Holtener Waldteich, nie mehr Kohle gefördert wurde, obgleich in 600 und 1.000 Meter Tiefe noch wertvolle Vorräte lagerten, wollte den Menschen in der zu 75 Prozent von Arbeitern bewohnten Industriestadt verständlicherweise nicht in den Kopf. 1930 legte die GHH die Kokerei Vondern, 1931 die Kokereien Sterkrade und Jacobi still. Ferner folgte die Stilllegung der Förderschächte Vondern 1932, Sterkrade und Jacobi 1933. Das bedeutete eine krasse, bislang ungekannte und unvorstellbare Krisenerfahrung von der Gefährdung schwerindustrieller Betriebe und Arbeitsplätze in Oberhausen.

Seit 1946 fand der eben skizzierte Wiederaufbau von einmaliger Geschwindigkeit und Dimension statt, mit dem die Produktions- wie die Beschäftigungsziffern in Oberhausens Leitbranchen Kohle, Eisen und Stahl alle Rekorde der Vorkriegszeiten vor beiden Weltkriegen deutlich in den Schatten stellten.

Die 1950er Jahre schließlich erleben neben dem Boom der Schwerindustrien den Aufschwung vieler weiterer Wirtschaftszweige, die den Zeitgenossen als zukunftsweisend gelten. Traditionsreiche Konsumgüterindustrien erreichen den Höchststand von Produktion und Beschäftigung. Dafür stehen im Bewusstsein der Zeitgenossen des Wirtschaftswunders in Oberhausen vor allem zwei Unternehmen, die zu den größten Fabriken ihrer Art in Deutschland zählten: Die Rheinischen Polstermöbelwerke Carl Hemmers beschäftigten 1961 insgesamt 1.800 Mitarbeiter, die Oberhausener Glasfabrik 600 Menschen.

Was diese schlaglichtartige Betrachtung der Oberhausener Wirtschaftsgeschichte vor allem zeigt, ist die stetige Verlässlichkeit von Wachstum und Veränderung in der 1962 schließlich einhundertjährigen Geschichte der Industriestadt Oberhausen. Zu jener Zeit blickten die Menschen in Oberhausen bereits auf einen anscheinend immerwährenden Wandel zurück. Seit rund einem dreiviertel Jahrhundert bestimmten Dynamik und Veränderung, im Sinne von Wachstum und ständiger Schaffung neuer Strukturen, die Oberhausener Industrie mit Kohle und Stahl sowie ihrer Weiterverarbeitung im Mittelpunkt. Doch beruhte der Optimismus der Zeitgenossen um 1960, dass sich Wandel auch zukünftig mit einem Wachstum von Stadt, Wirtschaft und Wohlstand verbinden würde, nicht minder auf der Erfahrung eines stetigen Bedeutungszuwachses der Dienstleistungen. Von der Tertiärisierung – den Dienstleistungen als drittem volkswirtschaftlichen Sektor – sprachen die Menschen bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert, und dieser Schwung nahm um 1960 spürbar zu:


Abb. 1: Die Marktstraße um 1900 mit Straßenbahn

Um 1890 erfuhr die Oberhausener Innenstadt mit ihren privaten und öffentlichen Dienstleistungen als der vollständig ausgebildete Mittelpunkt einer neuen Stadt einen ersten Abschluss. Damals betrug der Anteil der Dienstleistungen an der Beschäftigung in der Stadt etwa acht Prozent. Die statistischen Grundlagen der damaligen Zeit lassen keine seriösen Angaben hinter dem Komma zu, weil insbesondere Selbstständige und mithelfende Familienangehörige noch nicht nach den Maßstäben des 20. Jahrhunderts erfasst wurden. Danach expandierten die Dienstleistungen spürbar – und sichtbar: Neue Behörden wie Amtsgericht, Polizei und staatliches Gymnasium, die Ausweitung städtischer Aufgaben, neue Geschäfte in der Innenstadt bis hin zu Woolworth und dem Ruhrwachthaus mit dem Kaufhaus Leonhard Tietz prägten das erste Drittel des 20. Jahrhunderts in der Oberhausener Innenstadt. S. betrug der Anteil der Dienstleistungen an Oberhausens Wirtschaft vor der Weltwirtschaftskrise 1929 schon rund 15 Prozent. Zwanzig Jahre später, in der Gründungsstunde der Bundesrepublik 1949, hatte sich der Anteil auf etwa 20 Prozent ausgeweitet. Die 1950er Jahre dann erlebten – trotz des starken Zuwachses an Produktion und Beschäftigung in der Industrie – einen signifikanten Bedeutungsanstieg der Dienstleistungen. Mehr Wohlstand für die breite Bevölkerung ließ Handel, Gastronomie und private Dienstleistungen aufblühen. Neuartige öffentliche Aufgaben in Bildung, Kultur und Sozialem schufen ebenso Arbeitsplätze wie das Wachstum von Firmenverwaltungen im Zuge von wachsenden weltweiten Handelsverflechtungen. S. zeigt sich Oberhausen 1961 recht eindrucksvoll auf dem Weg zur Dienstleistungsstadt. Etwa 33 Prozent der gut 108.000 Erwerbstätigen waren in den Dienstleistungen beschäftigt, davon zwölf Prozent im Handel, ein Prozent in der Kredit- und Versicherungswirtschaft, fünf Prozent in öffentlichen Einrichtungen, fünf Prozent in der Verkehrswirtschaft und Nachrichtenübermittlung, die restlichen zehn Prozent in sonstigen Dienstleistungen.


Abb. 2: Die Marktstraße um 1970 als Fußgängerzone

Sehr aufschlussreich ist der starke Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit während der 1950er Jahre. Während der Anteil der Frauen in der Produktion bis auf die Konsumgüterindustrie etwa konstant bleibt, wird die Expansion der Dienstleistungen maßgeblich von den Frauen getragen. Im öffentlichen Dienst zeichnet sich sogar bereits eine absolute Abnahme der Männer bei stetig und mäßig ansteigender Gesamtbeschäftigung ab. Während die Anzahl der Erwerbstätigen in Oberhausen von 1950 bis 1955 insgesamt um 34 Prozent zunimmt, klettert die Beschäftigung der Frauen um 63 Prozent!4

Der Aufschwung der Dienstleistungen wurde für die Menschen im Stadtbild sichtbar. Ebenso wie in der Zwischenkriegszeit formt der Städtebau das Dienstleistungszentrum Innenstadt weiter um. Mehr als das, es sind vielfach gerade jene Projekte, deren Ideen bis in die 1920er Jahre zurückreichten, deren Verwirklichung damals jedoch an den knappen Finanzen gescheitert war. Jetzt, unter den erweiterten Handlungsspielräumen des Wirtschaftswunders, gelingt in kürzester Zeit zwischen 1955 und 1962 die Komplettierung der City mit dem Gesundheitsamt (Tannenbergstraße), dem Europahaus, der Luise-Albertz-Halle, dem Finanzamt, dem Hochhaus der Hans-Böckler Berufsschule sowie der Rathauserweiterung.


Abb. 3: Das Stadtzentrum südlich des Hauptbahnhofs mit dem Friedensplatz, um 2000

Betrachten wir den oftmals stürmischen und wechselhaften, jedoch in seinen Charakteristika stetigen, verlässlichen Wandel der Oberhausener Wirtschaft, und damit der gesamten Stadt, so wird nun erst nachvollziehbar, warum die Menschen des Jahres 1960 die seit 1958 in Form von Feierschichten auftretenden ersten, noch recht moderaten Anzeichen der Bergbaukrise nicht als Auftakt zu dramatischen Ereignissen bewerteten. Zwar wurde der Energieträger Öl als preiswerte Konkurrenz zur Steinkohle bewusst. Aber das hatte es schon seit den 1920er Jahren gegeben, dass Kohle vom Weltmarkt, aus Chile, Südafrika oder den USA, preiswerter war als die Ruhrkohle und den Zechen zu schaffen machte. Sogar Zechenschließungen zählten seit der Weltwirtschaftskrise 1931 zum schmerzhaften Erfahrungsschatz der Menschen. Folglich bedurfte es einiger Zeit, tiefgreifender Erkenntnisse und der allmählichen Betrachtung vielfältiger Zusammenhänge in Industrie, Dienstleistungen, Gesellschaft und Bevölkerung, damit die Oberhausenerinnen und Oberhausener fortan im Verlauf der 1960er Jahre allmählich erkannten und verinnerlichten: Auf die Jahrzehnte von Wandel und Wachstum würden von nun an Jahre des Wandels und der Stagnation, später auch der allmählichen Schrumpfung der Stadt folgen. Seit der ersten spürbaren Konjunkturkrise in der Geschichte der noch jungen Bundesrepublik im Jahr 1967 wurde dann klar: Es hatte ein Wandel begonnen, in dessen Folge Oberhausen nicht mehr auf immer mehr Menschen, Wohnungen und Arbeitsplätze abzielte. Es hatte ein Wandel eingesetzt, der allmählich die bislang überragende Bedeutung von Kohle, Eisen und Stahl in der Industriestadt Oberhausen fundamental in Frage stellen würde!

Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4

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