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1.3.11Synergetik: Die Wissenschaft komplexer selbstorganisierender Systeme
ОглавлениеGünter Schiepek
Eine weitere theoretische Orientierung, die im Kontext systemischer Therapie Bedeutung erlangt hat, ist die Synergetik, die ihren Ursprung in den 1960er-Jahren in der von Hermann Haken begründeten Lasertheorie hat (s. u.), seitdem aber auf ganz unterschiedliche materielle und immaterielle Phänomene angewandt wird. Viele Erscheinungen in der unbelebten und belebten Natur beruhen auf Wechselwirkungen und Vernetzungen zwischen Teilen (z. B. Atomen, Zellen, Menschen). Diese Wechselwirkungen sind nichtlinear, also nicht einfach proportional zueinander. Damit sind die Voraussetzungen für die spontane Entstehung von Mustern und Strukturen gegeben. Eine solche Emergenz von Mustern nennt man Selbstorganisation. Sie kann raum-zeitlich sein, wie z. B. Wirbel in einer Flüssigkeit oder in der Atmosphäre, Schwarmverhalten von Fischen oder Vögeln, oder auch sinnbezogen, wie Gestaltwahrnehmung in Gehirnen oder Kooperationsstrukturen zwischen Lebewesen.
Synergetik ist die Theorie und Wissenschaft der Selbstorganisation. Sie erklärt, wie Muster entstehen und sich verändern, wie das Neue in die Welt kommt, warum Systeme unter bestimmten Bedingungen sehr rigide und stabil funktionieren und unter anderen nach kleinsten äußeren oder inneren Schwankungen ein völlig geändertes Verhalten aufweisen können. Sie erklärt und erforscht das, was uns Psychotherapeuten oder Berater besonders interessiert: Wie ist Veränderung möglich, was ist dazu notwendig, und warum ist es oft so schwer, manchmal aber auch ganz leicht und mühelos, menschliche Systeme – ihr Denken, Verhalten, ihre Emotionen und ihre Kommunikation – zu verändern? Mit anderen Worten: Synergetik liefert eine Metatheorie und ein Forschungsprogramm für das Verständnis von Psychotherapie. Der Begriff der Selbstorganisation komplexer Systeme spielt dabei eine zentrale Rolle.
Ähnlich wie das Konzept der Autopoiese (hierzu ausführlich Strunk u. Schiepek 2006) begründet auch die Synergetik die Unmöglichkeit einer linearen, zielgerichteten Einflussnahme auf komplexe nichtlineare Systeme durch externe Eingriffe. Daraus resultieren fundamentale Zweifel an Sinn und Nutzen von Interventionstestungen (z. B. in Randomized Controlled Trials in Kontrollstudien). Psychotherapie lässt sich aus dieser Perspektive generell als ein Schaffen von Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse der biologischen, psychischen und/oder sozialen Systeme des Klienten verstehen, an dem sich Therapeut und Klient kooperativ beteiligen. Diese Bedingungen werden im Konzept des synergetischen Prozessmanagements (Haken u. Schiepek 2010) »generische Prinzipien« genannt. Diese generischen Prinzipien lassen sich als Veränderungsbedingungen in unterschiedlichen Therapieschulen finden und enthalten vor allem unspezifische (also nicht technikbezogene) Wirkfaktoren, die seit Jahrzehnten in der Psychotherapieforschung diskutiert werden:
•Stabilitätsbedingungen: Erlebt der Patient strukturelle und emotionale Sicherheit, gibt es eine Vertrauensbasis, und wird sein Selbstwertgefühl unterstützt?
•Identifikation von Mustern im System: Welches ist das »System«, auf das bezogen Veränderungen beabsichtigt sind? Beispiele: individuelles Verhalten, Gedanken oder Gefühle, Interaktionsmuster in Partnerschaften, Familien oder Gruppen. Erforderlich sind eine Beschreibung und Analyse dieser Muster oder Systemprozesse, damit man erkennen kann, was sich verändert und wohin die Interventionen zielen sollen.
•Sinnbezug: Klären und Fördern der sinnhaften Einordnung und Bewertung des Veränderungsprozesses durch den Patienten; Bezug zum Lebensstil und zu persönlichen Entwicklungsaufgaben.
•Kontrollparameter/Energetisierungen: Aktivierung von intrinsischer Motivation für die Veränderung; Ressourcenaktivierung; Bezug zu Annäherungszielen und Anliegen des Patienten.
•Destabilisierung/Fluktuationsverstärkung: Verhaltensexperimente; Musterunterbrechungen; Unterscheidungen und Differenzierungen einführen; Ausnahmen; ungewöhnliches, neues Verhalten erproben etc.
•»Kairos« (günstigen Zeitpunkt) beachten/Resonanz und Synchronisation ermöglichen: zeitliche Passung und Koordination therapeutischer Vorgehensweisen und Kommunikationsstile mit psychischen und sozialen Prozessen/Rhythmen des Patienten.
•Gezielte Symmetriebrechung: Zielorientierung, Antizipation und geplante Realisation von Strukturelementen des neuen Ordnungszustandes.
•Restabilisierung: Maßnahmen zur Stabilisierung und Integration neuer Kognitions-, Emotions- und Verhaltensmuster.