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Synergetik: Eine transdisziplinäre Strukturtheorie

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In den 1960er-Jahren entwickelte der theoretische und mathematische Physiker Hermann Haken (geb. 1927) das Theoriegebäude der Synergetik, und zwar zunächst am Beispiel eines quantenoptischen Phänomens, des Lasers. Das hochkohärente Laserlicht verdankt sich einem sich selbst organisierenden Prozess, der unter bestimmten Anregungsbedingungen aus der Wechselwirkung vieler lichtaktiver Atome resultiert. Das Laserlicht koordiniert oder »versklavt« dann umgekehrt als Ordner das lichtemittierende Verhalten der Atome (Teile des Systems). Es findet also sowohl eine Wechselwirkung zwischen den Teilen statt als auch eine Kreiskausalität von unten nach oben (bottom-up, die Interaktion der Teile bringt den Ordner hervor) wie von oben nach unten (top-down, der oder die Ordner synchronisieren die Teile). Das Verhalten vieler Teile kann also durch einen oder wenige Ordner beschrieben werden, womit eine drastische Vereinfachung (Informationskompression) der Systemdynamik und damit auch der Systembeschreibung stattfindet. Die als Kontrollparameter bezeichneten Anregungsbedingungen, die auf ein System wirken und Selbstorganisation ermöglichen, sind in Relation zu den systemintern entstehenden Mustern sehr unspezifisch, aber doch abhängig vom Systemtyp: Ein Laser braucht andere Kontrollparameter als die Konvektionsströmung in einer Flüssigkeit oder die neuronalen Netzwerke im Gehirn.

Mit diesem Modell wurde ein mathematischer Formalismus (Haken 2004) entwickelt, der sich auf andere Systeme übertragen ließ. Kaum ein Jahrzehnt nach seinen grundlegenden Entdeckungen begann Hermann Haken mit seiner Arbeitsgruppe, auch neuronale Prozesse im Gehirn und menschliches wie tierisches Verhalten zu studieren. Mit den Prinzipien der neuronalen Synchronisation (Ordnungsbildung) konnten wesentliche Funktionsgrundlagen des Gehirns verstanden werden (Singer 2011), und zwar im gesunden, physiologischen Bereich (z. B. bei der Wahrnehmung und der Gehirnentwicklung), wie auch in der Pathologie (z. B. bei Epilepsien, der parkinsonschen Erkrankung, essenziellem Tremor und wahrscheinlich auch bei psychiatrischen Erkrankungen; Tass 2011; Tass u. Hauptmann 2007). Über die Selbstorganisation des Gehirns (Haken 2011) und die motorische Koordination hinaus konnte die Synergetik bald schon auf weitere genuin psychologische Phänomene übertragen werden, wie Entscheidung oder Wahrnehmung und Mustererkennung. Nach dem Prinzip »Mustererkennung = Musterbildung« wurden die sich selbst organisierenden Prozesse der Wahrnehmung im sogenannten synergetischen Computer bereits in den 1970er-Jahren nachgestellt. Auch die Entstehung und Dynamik psychiatrischer Phänomene und psychischer Problemmuster, die Bildung und das Abrufen von Gedächtnisinhalten oder das Erleben eines »Selbst« können als Selbstorganisationsprozesse beschrieben und empirisch untersucht werden (wobei die psychologische Begriffs- und Konstruktfamilie des »Selbst« mit dem Begriff der »Selbstorganisation« zunächst nicht das Geringste zu tun hat). Nimmt man nun noch die Psychotherapie, Gruppendynamik und weitere sozialpsychologische Themen wie die Entstehung und Ausbreitung von Meinungen und Einstellungen in sozialen Kollektiven als sich selbst organisierende Prozesse dazu, kann man einen Großteil der Psychologie als angewandte Synergetik verstehen (Haken u. Schiepek 2010). Faszinierend sind dabei vor allem die Parallelen zu der bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausformulierten Gestaltpsychologie.

Dass viele mentale Leistungen des Menschen (wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Handeln) auf Selbstorganisation beruhen, ist schon deshalb plausibel, weil es im Gehirn weder einen Homunkulus noch eine zentrale Steuerungsinstanz gibt. Die von der Synergetik beschriebenen dynamischen Eigenschaften komplexer Systeme charakterisieren zahlreiche psychische wie soziale Vorgänge: diskontinuierliche Übergänge, das Auftreten kritischer Instabilität im Umfeld von Ordnungsübergängen, nichtlineare, chaotische Dynamik mit entsprechender Einschränkung in der Vorhersehbarkeit von Dynamiken (man denke nur an psychotherapeutische Prozesse), Überhangstabilität (Hysterese: stabiles Systemverhalten trotz geänderter Umgebungsbedingungen), Abhängigkeit der Verhaltensänderungen und Lernprozesse von Kontrollparametern (z. B. der intrinsischen Veränderungsmotivation) sowie Gestalt- und Musterbildung mit emergenten Eigenschaften, die auf der Ebene ihrer Subsysteme und Teile noch nicht vorliegen (z. B. mentale Vorgänge in Relation zur Aktivität von Neuronen).

Da die Synergetik eine formalwissenschaftliche Theorie darstellt, kann sie mit ihrer Begrifflichkeit und ihren Modellen eine Verständigungsgrundlage zwischen unterschiedlichsten Disziplinen schaffen. Sie liefert die Basis für eine neue Transdisziplinarität, die nicht nur Disziplinen wie Neurowissenschaft und Psychologie, sondern auch psychotherapeutische Ansätze verbindet. Im Sinne der strukturalistischen Theorienauffassung (Stegmüller 1985) handelt es sich um einen formalen Theoriekern, für den nach phänomen- und disziplinspezifischen Anreicherungen »intendierte Anwendungen« in unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen möglich wurden (Haken u. Schiepek 2010). Im Bereich der systemischen Therapieansätze ist die Synergetik auch in das Konzept der personenzentrierten Systemtheorie eingeflossen (vgl. Abschn. 1.3.12).

Bei der Synergetik handelte es sich um einen konsequent empirischen Forschungsansatz, der theoretische Modelle und mathematische Formalisierungen immer im Experiment und an nichtexperimentellen empirischen Datensätzen überprüft hat. Eine Darstellung dieser Forschungsstrategie findet sich in Abschn. 5.3.2.

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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