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1.3.12Personzentrierte Systemtheorie

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Jürgen Kriz

Die personzentrierte Systemtheorie (PZS) ist eine Mehr-Ebenen-Konzeption zum Verständnis von klinischen bzw. psychotherapeutischen, beraterischen und auf Coaching bezogenen Prozessen unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens unterschiedlicher Ebenen (u. a. von Körper, Psyche, interpersonellen und gesellschaftlichen Prozessen). Es geht dabei im Kern um die erklärungsbedürftigen Fragen, (a) wie wir Menschen aus der unfassbaren Komplexität einer physikalisch-chemischen und informationellen Reizwelt unsere Lebenswelt mit hinreichend fassbarer, sinnhafter Ordnung erschaffen, (b) wie diese Ordnung sich typischerweise an stets neue Bedingungen und Herausforderungen (»Entwicklungsaufgaben«) anpasst, (c) warum diese Adaptation aber auch partiell misslingen und sich insbesondere als überstabil und inadäquat erweisen kann – was für »Probleme« und viele »Symptome« typisch ist –, und letztlich, (d) wie professionelle Hilfe unter Nutzung von Ressourcen und Selbstorganisationspotenzialen gestaltet werden kann.

Entstanden ist die PZS etwa zu Beginn der 1990er-Jahre aufgrund unzureichender Erklärungen für diese Fragen in anderen Ansätzen. Deren Defizite lassen sich aus dieser Perspektive folgendermaßen beschreiben: Lineare Ursache-Wirkungs-Modelle nach dem experimentellen Paradigma greifen besonders dort zu kurz, wo es nicht primär um die Funktionsabläufe bei Maschinen oder um die Lebensprozesse biologischer Organismen geht, sondern um die Erlebensprozesse von Personen. Bei Letzteren handelt es sich wesentlich um die sinnhafte Gestaltung ihrer Beziehung zur Welt, zu anderen Personen und zu sich selbst. Sinn kann schwerlich als »abhängige Variable« in einem kausalen Wirkmodell durch »unabhängige Variablen« hergestellt oder quantitativ verändert werden. Selbst ein noch so sinnvoller sokratischer Dialog importiert keinen Sinn in die Person, sondern kann – im guten Fall – dazu beitragen, dass sich Sinnprozesse innerhalb der Person umordnen (Erste-Person-Perspektive). Dies wird in der PZS durch den Begriff »Person« betont: Zentrale Aspekte wie Sinn, Bedeutung oder Kohärenz finden nämlich auf der Ebene personaler Prozesse statt – auch wenn Letztere ganz erheblich durch soziale Prozesse in ihrer biografischen und historischen Dynamik beeinflusst werden. Die Umordnung von Sinn zeigt sich oft als Aha!-Effekt, was die nichtlineare Beziehung zwischen Intervention und Ergebnis verdeutlicht. Dies ist für Entwicklungsprozesse ebenso typisch wie ihre Einbindung in nichtlineare, rückgekoppelte Wirkungsnetze einer Vielzahl von Einflüssen. Beide Aspekte sind im klassischen Kausalmodell mit seinen isolierbaren Wirkfaktoren nicht vorgesehen.

Aus der Enge deterministisch-kausaler Wirkmodelle erscheinen Systemkonzepte wie die Autopoiese (vgl. Abschn. 1.3.5) zwar befreiend. Dies aber – durch die Überbetonung von operationaler Geschlossenheit, radikalem Konstruktivismus und der Aussage, dass die Umwelt allenfalls perturbiert (verstört, irritiert) werden kann – um den Preis fast grenzenloser Beliebigkeit. Denn wenn die Umgebung wegen autopoietischer Abgeschlossenheit wirklich nur einen bestenfalls verstörenden Einfluss hätte, würden professionelle Helfer nur herumstochern und in unvorhersagbarer Weise ausprobieren, wie man denn nun im vorliegenden Fall perturbiert und was daraus zufällig folgen könnte. Helfer erwarten aber nicht nur zu Recht Hinweise darauf, wie die Erfahrungsräume auch »subjektgebundener Erkenntnisprozesse« förderlicher oder weniger förderlich gestaltet werden können und welche Einflüsse sie dabei noch beachten sollten, sondern der systemische Ansatz hat auch erhebliches Wissen zur Gestaltung dieser Umgebungsbedingungen entwickelt. Dieses Wissen lässt sich im Rahmen der PZS gut verwenden, auch wenn diese ebenfalls betont, dass »menschliche Erkenntnis […] grundsätzlich subjektgebunden« ist (Ludewig, in diesem Band, S. 63). Die Gestaltung dieser Erfahrungsräume ist jedoch in der PZS keineswegs beliebig.

Letztlich greift auch ein Verständnis von systemischer Arbeit zu kurz, wie es noch dem Antrag der systemischen Verbände zur »wissenschaftlichen Anerkennung der Systemischen Therapie« 2008 (vgl. Sydow et al. 2007) zugrunde lag. Darin wird nur der »soziale Kontext psychischer Störungen« betont – also die Interaktion zwischen Familienmitgliedern, ihrer sozialen Umwelt und den Symptomen. Vernachlässigt wird, dass schon seit Ende der 1980er-Jahre der Narrative Turn die Bedeutsamkeit weiterer systemischer Prozessebenen in den Fokus nahm: Narrative, in welche die erzählten (Mehrgenerationen-)Familiengeschichten eingebettet sind und ihre Wirkung entfalten, oder die stabilisierende bzw. verändernde Kraft von Metaphern, die auf makrosozialkulturelle Bedeutungsfelder verweisen. Konkret aber müssen die Interaktionen, welche z. B. in einer Familie als Muster beobachtbar sind, stets die kognitivaffektiven Verarbeitungsprozesse der Beteiligten durchlaufen. Damit sind sie von deren persönlichen Sinndeutungen abhängig. Und hierbei können u. a. somatisch oder psychisch beeinträchtigte Verarbeitungsprozesse erhebliche Rückkopplungseffekte auf die Interaktionsstrukturen haben. Interaktionelle und psychische Prozesse sind also stets miteinander verwoben, Verstehens- und Sinndeutungsprozesse eng mit der biosomatischen Ebene von Gedächtnis, Bewusstsein, Gefühlen, Achtsamkeit verknüpft, wie nicht erst die Hirnforschung zeigen konnte.

Solche Wirkeinflüsse unterschiedlicher Prozessebenen konzeptuell zu fassen und für die oben genannten Fragen zu klären ist das Anliegen der PZS. Dabei sind einige zentrale Grundkonzepte eng an die interdisziplinäre Systemsprache der Synergetik angelehnt, weil dieser Ansatz die Interaktion von Prozessebenen, die Herausbildung (Emergenz) und Veränderung (Phasenübergang) von Ordnung, die Adaptation an eine Systemumwelt sowie Fragen von Stabilität und Instabilität sehr detailliert zu fassen vermag (vgl. Abschn. 1.3.11). Der Gefahr einer inadäquaten naturalistischen Reduktion wird aber dadurch begegnet, dass »Synergetik« konsequent als ein strukturwissenschaftliches Modell verstanden wird, das zwar auch (und bisher überwiegend) auf naturwissenschaftliche Phänomene angewandt wird, aber eben keineswegs auf sie beschränkt ist. Es besteht zudem eine enge Korrespondenz zwischen der Synergetik und der klassischen Gestaltpsychologie der Berliner bzw. Frankfurter Schule (u. a. Wertheimer, Koffka, Köhler, Lewin, Goldstein) – die auch für die PZS eine wichtige konzeptuelle Quelle darstellt.

Das zentrale in der PZS ausdifferenzierte Subkonzept ist der Sinnattraktor mitsamt seiner Komplettierungsdynamik: Wenn man dem Nachbarn, dem Partner oder einem Klienten zuhört, so bedeutet »Verstehen« das Einordnen des Gehörten in das innere Bild, das man sich von ihm macht. Dieses Bild ist – bottom-up – selbst aus unzähligen Gesprächs- und Informationspartikeln im Laufe der Zeit entstanden und wirkt nun – top-down – im Prozess der selektiven Wahrnehmung und Sinnzuordnung wie ein Attraktor, d. h., Informationspartikel werden so verarbeitet und strukturiert, dass das Bild weiter komplettiert wird. Diese Komplettierung kann aber den Blick auf das Neue verstellen: In prototypischen Szenen bei Paartherapien erleben wir immer wieder, dass auf die Frage: »Haben Sie eigentlich gehört, was Ihr Partner gerade gesagt hat?«, die Antwort folgt: »Oh – nein, aber als er anfing, wusste ich sowieso schon, was er sagen wird!« Das macht deutlich, wie stark solchenfalls der Raum neuer Erlebens- und Verstehensmöglichkeiten reduziert ist.

Komplexitätsreduktion ist zwar notwendig, denn sie schafft jene Ordnung und Regelmäßigkeit, die für Vorhersage und Vertrautheit wichtig sind. Wenn aber zu wenig Neues und Aktuelles zugelassen wird, kann vermeintliches »Verstehen« zu stark in reine Unterstellungen und damit in Missverstehen umschlagen. Mangelnde Öffnung für Neues beim Verstehen geht nicht selten mit zu rigiden Interaktionen einher: »Wozu soll ich mich ändern – mein Partner würde das sowieso nicht bemerken!«, lautet der prototypische Satz für diesen Zusammenhang.

Attraktoren bezeichnen somit die selbstorganisierte Ordnung aufgrund von Wechselwirkungen zwischen den Elementen eines Systems und erzeugen Reduktion von Komplexität. Ihre Struktur (als Ordner vorstellbar) beeinflusst bzw. komplettiert im weiteren Verlauf der Wechselwirkungsprozesse die Systemdynamik im Sinne dieser Ordnung. Auch wenn alle Sätze, Situationen und Kommunikationen im Alltag hoch polysemantisch sind (also sehr viele Bedeutungen haben können), werden diese Bedeutungsräume durch Sinnattraktoren strukturiert und reduziert. Synergetische Selbstorganisation zeigt, dass Attraktoren immer adaptiv in Bezug auf die Gesamtheit der Umgebungsbedingungen sind. Dies gilt zum einen auf der Entwicklungsebene: Die Strukturierungsprinzipien, mit denen eine Person sinnhaft ihre Beziehungen zur Welt, zu anderen Personen und zu sich selbst gestaltet, entwickeln sich ja stets in selbstorganisierter Adaptation an die sich verändernden Bedingungen des Lebens. Beginnend mit den zentralen Strukturen (zu denen auch beispielsweise genetische und pränatale Strukturen zählen), ändern sich diese Umgebungsbedingungen typischerweise ständig: An einen Zweijährigen, Sechsjährigen, 14- oder 20-Jährigen werden jeweils andere Anforderungen (Entwicklungsaufgaben) gestellt. Analog gilt dies für Paare, Familien und Organisationen. Bisherige Strukturen müssen aufgegeben werden, damit Neue entstehen können (sogenannte Phasenübergänge). Allerdings geht es dabei weniger um die von Beobachtern beschriebenen als um die von der jeweiligen Person (Paar, Familie, Organisation) selbst wahrgenommenen Bedingungen. Hier kann es viele und »gute« Gründe geben, die objektiven Veränderungen nicht wahrzunehmen (z. B., wenn sie Angst machen). Die Lösungen in Form bestehender Sinnattraktoren passen dann nicht mehr zu den veränderten Bedingungen: Dann ist mit Symptomen und Problemen zu rechnen.

Zu den Umgebungsbedingungen zählen aber zum anderen auch die jeweils anderen Prozessebenen: So sind für Attraktoren auf der Ebene familiärer Dynamik (Interaktionsmuster) sowohl die Makrosozialsysteme »Umgebung« – u. a. (sub)gesellschaftliche Normen und Werte, kulturelle Muster und intergenerative Narrationen – relevant als aber auch individuelle Sinndeutungen, die selbst wiederum von somatischen Prozessen (z. B. körperlichen Beeinträchtigungen wie einem schweren Asthma) beeinflusst sein können. Vermittels der präzisen synergetischen Fassung von Ordnungsbildung relativ zur Umgebung lassen sich somit die Einflüsse zwischen den Prozessebenen gut darstellen – wenn auch an dieser Stelle nur grob skizziert.

Mit den Subkonzepten »Bedeutungsfelder« und »Synlogisation« trägt die PZS der Erfahrung Rechnung, dass sich typischerweise Sinnattraktoren unterschiedlicher Systeme überlagern (Bedeutungsfelder) und mehrere Personen(gruppen) gemeinsam Bedeutungsaspekte entwickeln. Spricht z. B. der Vater vom Asthmaanfall des Jüngsten, so resultiert die Bedeutung dieser Aussage nicht nur aus den familiären Interaktionsmustern, sondern wird auch aus den kulturell verfügbaren Bildern von Krankheit, Fürsorge, Tod, Opferbereitschaft etc. gespeist, wie auch aus der ganz persönlichen Kindheitsbiografie des Vaters. Und wenn er »Schon wieder dieser Lehrer!« sagt, dabei die Augen verdreht und die Mutter beipflichtend nickt, referieren die beiden auf eine gemeinsame Bedeutung, die vielleicht nur sie in hohem Ausmaß teilen und verstehen.

Trotz der sehr skizzenhaften Darstellung einiger weniger Aspekte der PZS sollte deutlich geworden sein, dass die PZS mit ihrem Verständnis von überstabilen Sinn- und Interaktionsattraktoren und der Notwendigkeit von Phasenübergängen den Blick für Ressourcen im Umgang mit Problemen und Symptomen schärfen und eine konzeptionelle Basis für die vielen systemischen Vorgehensweisen zur Verfügung stellen kann, mit deren Hilfe leidvolle Beziehungen zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich verändert werden sollen (weiterführend s. Kriz 2010b; von Schlippe u. Kriz 2004). Wie schon die Stoiker vor 2000 Jahren betonten, beunruhigen nicht die Dinge selbst, sondern unsere Meinung über die Dinge uns Menschen.

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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