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2 Die Leerstelle im Archiv: Warum Literaturübersetzungen so schwer zu finden sind

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Bibliotheken sind das zentrale Archiv unserer Schriftkultur. Sie sammeln selbstverständlich auch Übersetzungen, die dort physisch vorhanden und potenziell sichtbar sind; in Nationalbibliotheken sogar für große Zeiträume weitgehend vollständig. Dennoch sind Übersetzer in der Bibliothek unsichtbar. Übersetzer sind dort – zweitens – nicht zufällig unsichtbar, sondern systembedingt nicht zu finden, weil die Regeln der Katalogisierung sie systemisch ausschließen. Da diese bibliothekarischen Normen erst seit den 2000er Jahren international halbwegs verpflichtend vorschreiben, bei der Erfassung eines Buches auch den Übersetzer zu nennen, lässt sich – drittens – die Kulturgeschichte des Übersetzens auf gesicherter und quantitativ abgeglichener Grundlage nicht schreiben.

Dem ließe sich entgegnen, dass Übersetzungen doch in den Bibliotheken stehen und gefunden werden: Die Übersetzungen aller großen Autoren seit der Antike sind auffindbar und bestens erforscht, ebenso die der Klassiker seit der frühen Neuzeit von Miguel de Cervantes über René Descartes zu Laurence Sterne, ganz zu schweigen von all den Fassungen der Bibel. Wolfgang von Goethe übersetzte Voltaire und Sophokles, Arthur Schopenhauer Baltasar Gracián, und Peter Handke Walker Percy. Ja, diese und zehntausende andere Übersetzungen stehen in den Regalen und Katalogen. Und wenn man weiß, welches Buch und welchen namhaften Übersetzer man sucht, wird man fündig. Schon deutlich niedriger liegt die Erfolgsquote bei weniger bekannten Übersetzern, vor allem bei solchen, die nicht auch als Theologen, Schriftsteller oder Philosophen publiziert haben wie Martin Luther, Goethe, Benjamin & Co; in solchen Fällen und vor dem Ende des 20. Jahrhunderts muss man Glück haben und hoffen, dass er bereits verschlagwortet wurde. Aber, sucht man nach namhaften Autoren, die auch übersetzt haben, wird man immer fündig. Sucht man nach Übersetzungen berühmter oder berühmt gewordener Werke (Ovids Metamorphosen, Jean Racines Dramen), wird man ebenfalls fündig. Wo also liegt das Problem?

Es verbirgt sich hinter den sogenannten „Preußischen Instruktionen“1 von 1899. Dieses bibliothekarische Regelwerk, bald auch außerhalb Preußens angewandt, legte fest, was auf dem knappen Platz einer Katalogkarte zu erfassen war. Übersetzer waren nicht verpflichtend zu nennen, konnten aber optional in der Rubrik „weitere Verfasser“ oder „sonstige Mitwirkende“ aufgeführt werden. Das änderte sich nicht, als die Preußischen Instruktionen 1974, in den Jahren der ersten Umstellung auf elektronisch lesbare Kataloge, durch die „Regeln für die alphabetische Katalogisierung“ (RAK) ersetzt wurden. Denn seinerzeit wurden in einem ersten Kraftakt der Digitalisierung die alten Katalogkarten nur in ein neues Medium überführt, aber nicht inhaltlich bearbeitet. Das Problem für die Recherche nach Übersetzern und Übersetzungen der letzten 200 Jahre ist ein doppeltes: Erstens wurden die Namen der Übersetzer nur manchmal erfasst, viele von ihnen sind also gar nicht zu finden. Zweitens wurden sie unter den „sonstigen Mitwirkenden“ in der jeweiligen Datenbank (Zettelkatalog, NBV/Norddeutscher Bibliotheksverbund, GBV/Gemeinsamer Bibliotheksverbund usw.) unterschiedlich standardisiert erfasst. Folglich sind sie dort nicht eindeutig in ihrer Funktion als „Übersetzer“ erkennbar und zu verwechseln mit Herausgebern, Autoren von Vor- oder Nachworten usw. Bevorzugt als Übersetzer erfasst wurden solche Personen, die bibliothekarisch bereits als Autoren geführt wurden und auch übersetzt hatten; deshalb sind sie leichter über den Katalog zu finden. Aufgrund dieser Systematik der Bucherfassung verschwinden Personen, die nur übersetzt haben, leichter aus dem Katalog und sind in der Folge nicht mehr recherchierbar.

Ab den 1970er Jahren wurden im Zuge der Normierung im internationalen Bibliotheksverkehr die digitalen Formate modernisiert und an die neuen Speichermöglichkeiten angepasst. Seitdem gibt nicht mehr eine kleine Karteikarte die Speichergröße vor, weshalb zu jedem neuen Medium in einer Bibliothek zunehmend mehr Informationen erfasst werden können. Im Machine Readable Cataloging (MARC 21),2 seit 2004 gültig in Deutschland (ab 2007 eingeführt), finden sich deshalb einheitliche Codenummern, hinter denen sich zum Beispiel die Angaben über die Originalsprache, das Faktum der Übersetzung und der Name des Übersetzers finden. Im heute geltenden neuen Standardformat Resource Description and Access (RDA) müsste der Übersetzer im Feld 3010 immer erfasst sein, so versprechen es zumindest die Verantwortlichen der Datenbank K10plus, verfügbar seit März 2019. Aber, so die Aussage einer damit befassten Bibliothekarin: „Dafür, dass das Feld wirklich in jedem von den Regeln vorgesehenen Fall angelegt wird, würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.“3 Selbst im Jahr 2021 kann man sich also nicht sicher sein, dass von jedem übersetzten Buch der Übersetzer im Katalog erfasst ist.

Für Titel, die ab Mitte der 1970er Jahre erschienen sind, wächst also die Wahrscheinlichkeit, erfolgreich über den Katalog auf den Gesamtbestand an Übersetzungen im Archiv zugreifen zu können. Allerdings sehr langsam. Im Umkehrschluss heißt das: Vor 1975 gestalten sich die Recherchemöglichkeiten schwieriger und für die Zeit vor den „Preußischen Instruktionen“ sind sie nur in bereits digital aufbereiteten Beständen gegeben. Aber selbst für die Zeit ab den 1970er Jahren kann man als Nutzer von außen nicht systematisch auf den kompletten Bestand an Übersetzungen zugreifen; dies ist nur über die Quelldaten des Katalogs möglich, also mit Hilfe von eigens erstellten Algorithmen.

Die Folgen für die Übersetzungsforschung sind beträchtlich: Einerseits bedingen diese Einschränkungen zu viel Clusterung und andererseits zu wenig Kontextualisierung. Was ist mit Clusterung gemeint? Historische Übersetzungsforschung beschäftigt sich bevorzugt mit den immer gleichen Clustern um die sogenannte Übersetzerschule von Toledo, den Kirchenvater Sophronius Eusebius Hieronymus, um Martin Luther oder William Shakespeare. Die vielen tausend anderen, nicht berühmten und vermeintlich ‚namenlosen‘ Übersetzer weniger berühmter Werke bleiben weitgehend unbearbeitet. Es kommt zu einem sich selbst verstärkenden Effekt, der diese Clusterung noch weiter befördert: Sobald der Don Quijote (1605) mehrmals übersetzt ist, gilt er übersetzungsgeschichtlich als relevant. Die Wahrscheinlichkeit steigt damit, dass man ihn eine Generation später wieder übersetzt, wodurch er sich in der Forschung zum Referenzautor für Übersetzungen aus dem 17. Jahrhundert etabliert. Dabei fehlt jedoch jegliche Möglichkeit zur Kontextualisierung. Denn zu fragen wäre ja auch danach, welche Autoren aus Miguel de Cervantes’ Generation ebenfalls übersetzt wurden, und wann erstmals? Oder: Welche spanischen Autoren wurden noch übertragen von Pahsch Basteln von der Sohle alias Joachim Caesar, der den Don Quijote zwischen 1621 und 1648 erstmals in Teilen ins Deutsche übersetzte? Erst solche Bezüge würden es der Übersetzungsgeschichtsschreibung ermöglichen, die einzelne Übersetzung und ihren Träger in ein halbwegs vollständiges Bild ihrer „literarischen Milieus“ (Richter 2017: 472) einzuordnen – so wie es die Literaturgeschichtsschreibung mit ihren Autoren auch tut.

Die folgenden Graphiken sollen eine Vorstellung davon vermitteln, was unter Kontextualisierung zu verstehen wäre. In Kooperation zwischen Hispanisten und Informatikern wurde im Rahmen eines Rostocker Forschungsprojekts ein Algorithmus entwickelt, der im deutschen Gesamtkatalog Übersetzungen aus dem Spanischen sucht. Die Recherche wurde aus den oben genannten Gründen eingegrenzt auf die Zeit ab 1970, da die digitalisiert verfügbaren Quelldaten des Katalogs nur für seit 1970 erfasste Werke halbwegs vollständig sein können. Die Graphiken sollen ausgewählte Forschungsergebnisse exemplarisch vorführen, um den hermeneutischen Wert solcher Kontextualisierungen zu belegen. Die folgende Abbildung zeigt die 20 am häufigsten aus dem Spanischen übersetzten Autoren für den Zeitraum 1970 bis 2015:

Abb. 1:

Die am häufigsten übersetzten spanischen Autoren (1970–2015)

Für den genannten Zeitraum ist zu erkennen, dass von Miguel de Cervantes 90 Titel auf Deutsch publiziert wurden, gefolgt von Federico García Lorca mit knapp 80 Titeln. Nur 10 Autoren kommen auf mehr als 30 Titel in einem Zeitraum von 45 Jahren. Dabei wurde nicht unterschieden zwischen Klassikern und Gegenwartsautoren, die vermehrt erst seit den späten 1980er Jahren übersetzt wurden. Deren Position wäre in solch einer Auflistung also in anderer Relation zu betrachten, denn Gegenwartsautoren erscheinen teils erst in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums, Klassikerausgaben hingegen finden sich von Beginn an (und erreichen folglich viel leichter eine zweistellige Zahl von Ausgaben).

Wie wird das jeweilige Feld (hier: Übersetzungen aus dem Spanischen 1970–2015) von einzelnen Autoren dominiert? Gibt es Zugpferde, die die Rezeption dominieren und möglicherweise befördern? Abbildung 2 zeigt das Ergebnis der Berechnung, die den Anteil der 10 bzw. 20 meistübersetzten Autoren ins Verhältnis setzt zur Gesamtzahl der übersetzten Titel.

Abb. 2:

Synchrone Betrachtung – Anteil der am häufigsten übersetzten spanischen Autoren in Relation zur Zahl aller Übersetzungen aus Spanien (1970–2015)

Allein auf die in Abbildung 1 gezeigten Top-20-Autoren, von denen jeweils mindestens 20 Werke übersetzt wurden, entfallen 25 % aller veröffentlichten Übersetzungen. Umgekehrt heißt das: Von 75 % der aus dem Spanischen übersetzten Autoren wurden im Untersuchungszeitraum (deutlich) weniger als 20 Titel übertragen.

Schauen wir nun auf die diachrone Auswertung und die Entwicklung dieser Zahlen über die Jahre. Die blauen Balken zeigen, gemittelt auf je 5 Jahre, die durchschnittliche Gesamtzahl an publizierten Übersetzungen: Anfangs sind es um 140, später bis zu 440 pro Jahr. Die rote Linie gibt die Zahl der in den gleichen Fünfjahresschritten publizierten Titel von Cervantes an (immer zwischen 14 und 7).

Abb. 3:

Diachrone Betrachtung – Anteil der Cervantes-Übersetzungen am Markt der Übersetzungen aus Spanien (1970–2015)

In Fünfjahresschritten gemittelt erkennt man deutlich den Boom der Übersetzungen aus dem Spanischen, und dass das Gewicht des meistübersetzten Autors abnimmt. Anfang der 1970er Jahre waren viel übersetzte Autoren wie Cervantes oder Lorca (bei ihm sind die Relationen ähnlich) im damals noch kleinen Gesamtmarkt dominant. Ab den 1990er Jahren ändern sich die Relationen: Noch immer wird Cervantes regelmäßig und in beträchtlicher Zahl verlegt, aber in einem nun wesentlich größeren Gesamtmarkt. Seine Titel sind nunmehr Teil einer weitaus differenzierteren Rezeption der spanischen Literatur.

Ein solcher algorithmengestützer Zugriff auf den Katalog ermöglicht datenbasierte Antworten auf vielfältige Fragestellungen zur Rezeption übersetzter Literatur. Konkret könnte man nun auf Grundlage solcher Auswertungen zum Beispiel der Frage nachgehen, ob es tatsächlich einen „Javier Marías-Effekt“ für die Rezeption der spanischen Literatur in Deutschland gab oder einen „Umberto Eco-Effekt“ im Fall der Italienischen. Einschränkend muss allerdings hinzugefügt werden, dass selbst für die Zeit nach 1970 die verfügbaren Quelldaten mit Unsicherheit behaftet sind, weil die Auszeichnung der Übersetzungen im Katalog nicht eindeutig ausgelesen werden kann. Für die Zeit vor 1970 wird die Datenbasis wackelig, vor 1900 brüchig.

Wenn nun aber gilt, dass für eine valide kulturgeschichtliche Übersetzungsforschung Bezüge und Relationen lesbar sein müssen, um die einzelne Übersetzung und ihren Träger in ein halbwegs vollständiges Bild einzuordnen, dann ist solch eine Katalogrecherche mit avancierten Algorithmen zeitlich begrenzt und mit den vorgegebenen Recherchetools der öffentlich zugänglichen Nutzeroberfläche so gut wie gar nicht möglich. Es mögen zehntausende von Übersetzungen in den Magazinen der Bibliotheken stehen, man kann sie für die Zeit vor 1970 nicht systematisch recherchieren. Physisch besetzt jede von ihnen im Regal eine Stelle – kulturgeschichtlich aber bleibt sie eine Leerstelle.

Das ist gemeint, wenn hier von einer Leerstelle die Rede ist: Mit den vorhandenen Recherchetools sind Übersetzungen im Archiv nicht auffindbar. – Kommen wir nun zum Archiv der Sprache selbst, in dem Übersetzer und Übersetzungen durchaus sichtbar sind.

Die Sichtbarkeit der Übersetzung

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