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3.1 Der skeptische Blick

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Eine statische Auswertung der Einträge in Delisles Sammlung sowie der erwähnten Datenbank bringt folgendes Ergebnis: Nur in maximal einem Viertel der Belege kommt eine eindeutig positive Haltung gegenüber den Übersetzern zum Ausdruck, die dort etwa als ‚Brückenbauer‘ oder ‚Fährmänner‘ apostrophiert sind, als ‚Friedensstifter‘ oder ‚Zauberer mit Sprachen‘. Aber gut 75 Prozent der Benennungen sind hingegen kritisch, skeptisch, wenn nicht verletzend: Übersetzer seien ‚Souffleure‘, ‚Schattenschreiber‘, ‚Lohnschreiber‘, ‚fröhliche Vampire‘, ‚Bindestriche‘, ‚Trickser‘, ‚Nacherzähler‘ oder schlicht ‚Kolonisatoren des Ausgangstextes‘, kurz: ‚Herumirrende zwischen Grenzen‘ oder ‚Falschmünzer‘.1

Betrachten wir im zweiten Schritt die skeptischen Aussagen zum Übersetzen, die die weitaus größte Gruppe in den Sammlungen bilden: Gerade sie wirken vertraut, klingen ganz selbstverständlich, wir alle haben sie immer schon im Ohr. „Beim Übersetzen geht immer etwas verloren“, heißt es im deutschen Volksmund bedauernd; der Franzose formuliert seine analoge Skepsis mit Esprit: „Le mariage est la traduction en prose du poème de l’amour.“ Es heißt, Übersetzer seien ‚Künstler im Auftrag‘, Zwitterfiguren, bei denen die künstlerische Seite der Arbeit dadurch abgewertet ist, dass sie nur auf Auftragsbasis, also zweckgebunden erfolgt. Als Richtschnur für übersetzerisches Handeln gilt dem Mann auf der Straße: „Man muss so treu wie möglich und so frei wie nötig übersetzen.“ Friedrich Schleiermacher spitzt den gleichen Gedanken wie folgt zu: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“ (Schleiermacher 1963: 47)

Schleiermacher konstruiert hier eine Entweder-Oder-Maxime, die klug klingt, sich bei der praktischen Arbeit am konkreten Text aber schnell in Luft auflöst, weil die sprachlichen Entscheidungen feinstofflich zu komplex sind für solch ein Schwarz-Weiß-Schema. Viele skeptische Redensarten basieren auf solchen Entweder-Oder-Aussagen. Sie wirken wie Aporien, als ob sich die Pole ihrer Aussage kategoriell ausschließen würden. Es klingt ja auch irgendwie „logisch“, dass eine Übersetzung nicht zugleich treu und frei sein kann, oder? Aber die Grundlage solcher Entweder-Oder-Aussagen sind oft schlichte Setzungen ohne argumentative Herleitung. Denn was zum Beispiel im Umgang mit natürlichen Sprachen Treue sein soll und was Freiheit, bleibt unausgesprochen und wird nicht definiert. Die Wirkung solcher Setzungen, die sich als Aporien spreizen, ist weitreichend: Aus der Denkfigur des Entweder-Oder folgt als vermeintlich logischer Schluss, dass Übersetzen – egal wie man es nun anstellt – so oder so defizitär sein muss. Die binär konstruierte Aussage suggeriert, dass ein dritter Zugang nicht gedacht werden könne. Folglich übersetzt man entweder zu treu, agiert dann aber nicht frei und umgekehrt. Wer auf solche Entweder-Oder-Aussagen kritisch zu antworten versucht, sitzt schnell in der Falle, denn er kann schwerlich heraustreten aus der falschen Setzung.

Besonders gut ist die Konstruktion solcher Pseudo-Aporien an dem folgenden Beispiel zu erkennen: „Übersetzungen sind wie Frauen, die Schönen sind untreu, die Treuen sind hässlich.“ Dieser Voltaire zugeschriebene Ausspruch wird seit 200 Jahren zitiert – offensichtlich ohne je über seine bedeutungsgebende Setzung nachzudenken. Die lautet, dass Frauen wahlweise hässlich oder untreu sind, was im Frankreich des 18. Jahrhunderts vielleicht als geistreich galt, logisch dennoch Unfug ist. Der Satz kann stellvertretend für viele andere gelesen werden, die die ästhetische Wertung des Übersetzens mit einer moralischen Abwertung verknüpfen. Exemplarisch kann er stehen für all die Blicke männlicher Kommentatoren, deren Rhetorik das Übersetzen weiblich konnotiert oder Übersetzungen als weibliche Wesen imaginiert, von per se zweifelhafter Verlässlichkeit.

Ein anderer Typus von skeptischen Aussagen entspringt dem unmittelbaren Vergleich von Original und Übersetzung. Da die bis heute in der der westlichen Welt gängigen Vorstellungen davon, was im Gutenberguniversum ein Original ist, vom Geniekult der europäischen Romantik geprägt wurden, kommt die Übersetzung umso schlechter weg, je näher die jeweilige Aussage dem Gravitationsfeld romantischer Poetiken steht. Zum Beispiel in der Gegenüberstellung: „Originale reifen, Übersetzungen altern.“ Begründen ließe sich diese Opposition allenfalls auf Grundlage eines traditionellen Werkbegriffs und historisch argumentierend: Ein Werk – einmal von letzter Hand veröffentlicht – bliebe gemäß dieser Sichtweise für immer unverändert. Wohingegen Übersetzungen immer wieder neu angefertigt werden, sich also verändern. Mit guten Gründen und unterfüttert mit vielen Beispielen aus der Übersetzungsgeschichte ließe sich entgegnen, dass es häufig umgekehrt war. Denn Originalwerke aus früheren Epochen sind keineswegs stabil, jede kritische Gesamtausgabe erstellt ein neues Original, im Wissen um frühere Lücken oder Fehler, Varianten, Auslassungen, Verlagszensur, konkurrierende Editionen. Außerdem werden Originale mit den Jahren unverständlich: Kein britischer Schüler versteht Shakespeare ohne Anmerkungen. Und vor allem verändern die angeblich still vor sich hin reifenden Originale ihre Bedeutung, gerade durch das Wissen um die Tatsache, dass sie übersetzt und in anderen Sprachwelten anders verstanden werden. Mehr noch, Neuübersetzungen halten Klassiker frisch: Weshalb wir deutschsprachigen Leser immer wieder neue King Lears und Madame Bovarys vorgestellt bekamen, je nach Maßgabe des sich wandelnden literarischen Geschmacks. Die Metapher der Reife verliert also recht schnell an Prägnanz, wenn man etwas genauer hinschaut. Ebenso die des Alterns, zumal sie ebenso für Übersetzungen in Anspruch genommen werden kann: Noch immer wird der Barockautor Baltasar Gracián auch in der Übersetzung Schopenhauers gelesen, Shakespeare in den Worten von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck oder Marcel Proust gerne in der Syntax von Eva-Maria Mertens. Offenbar alles gut gealterte Übersetzungen.

Originale reifen, Übersetzungen altern? Man könnte darauf antworten und im Wissen um die heutige Sicht auf den Status von Übersetzungen im literarischen Gefüge einen Gegen-Sinnspruch kreieren: Originale verdunkeln, Übersetzungen erhellen. Aber der darin aufgehobene freundliche Blick aufs Übersetzen klingt nicht recht sprichworttauglich. Das Kollektiv redet mehrheitlich anders. Denn es orientiert sich an einem idealistisch gedachten Original, das auratisch überhöht wird, weshalb die daneben sich mühende Übersetzung selbstverständlich abfallen muss, als ob es ein Naturgesetz wäre. Um noch einmal auf das letzte Beispiel zu kommen: Es ist die bestechende biologische Evidenz der Gegenüberstellung „Reifen versus Altern“, die die überzeitliche Gültigkeit der Aussage rhetorisch unterfüttert und ihre Bedeutung schließlich überführt in den Bereich der naturgesetzlichen Wahrheit. Der Satz tut so, als ob er nicht von Kultur spräche, sondern von der Natur. Das klingt eingängig, das wirkt überzeugend, dem zu widersprechen steht nicht an. Deshalb wird es gerne nachgesprochen.

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