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3.2 Der freundliche Blick
ОглавлениеDie Aussagen, in denen Vertrauen und Wertschätzung gegenüber Literaturübersetzern zum Ausdruck kommen, finden sich deutlich seltener; sie machen etwa ein Viertel der in den Datenbanken und Sammlungen verzeichneten Einträge aus. Die ihnen zugrundeliegenden Denkfiguren unterscheiden sich deutlich von denen der skeptischen Aussagen, denn sie verfolgen oft einen beschreibenden Ansatz: Wenn Übersetzer als ‚Brückenbauer‘ oder ‚Fährmänner‘ benannt werden, sind sie markiert als Akteure eines gelingenden und offenbar fruchtbringenden Transports von A nach B, von einer Kultur oder/und Sprache in andere. Als solche machen sie ein Konzept wie ‚Weltliteratur‘ überhaupt erst denkbar, wie es in folgendem Diktum zum Ausdruck kommt, das nicht nur José Saramago zitiert: „Schriftsteller schreiben Nationalliteratur, aber es sind die Übersetzer, die Weltliteratur schreiben.“1 In die gleiche Richtung dachte Johann Wolfgang von Goethe:
Und so ist jeder Übersetzer anzusehen, dass er sich als Vermittler dieses allgemein-geistigen Handels bemüht und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr. (Goethe 1967a: 237)
Zwar gilt Lyrik als besonders schwierig zu übersetzen, doch formuliert Paul Valéry, obwohl Lyriker, mit Nachdruck den Gedanken, dass Übersetzen natürlich gelingen kann: „Traduire, c’est produire avec des moyens différents des effets analogues.“ (zit. in: Delisle 2007) Eine Variation dazu liefert der Ausspruch von Günter Grass, der den Kerngedanken noch einmal anders zuspitzt, wenn er sagt: „Die Übersetzung verwandelt alles, um nichts zu ändern.“ Auffällig ist, dass sich in dieser Gruppe viele zeitgenössische Schriftsteller als Quellen finden, also Autoren, die dank heutiger Kommunikationsformen in engem Austausch mit ihren Übersetzern in der ganzen Welt stehen und sie offenbar als sehr gute Leserinnen kennengelernt haben. Ihre Sentenzen lesen sich, als ob sie eine Gegenposition markieren wollten zur allfälligen Kritik, wie das folgende Beispiel von Alberto Manguel zeigt: „Der ideale Leser ist ein Übersetzer […]. Er ist in der Lage, einen Text zu zerlegen, ihm die Haut abzuziehen, ihn bis aufs Mark auszuweiden, jeder Arterie und jeder Vene nachzugehen, um dann ein neues lebendiges Wesen zu erschaffen“ (Manguel 2003). Manguel imaginiert den Übersetzer als Demiurgen, der gleich dem Autor fähig ist, aus dem Material der Sprache, das er anthropomorphisiert herbeizitiert, einen lebensfähigen literarischen Text zu erschaffen. Und vor dem Hintergrund all der leserzentrierten Literaturtheorien der letzten Jahrzehnte kann es wohl keinen größeren Ausdruck der Wertschätzung geben an als den, der „ideale Leser“ zu sein.