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1 Zur Ethik und Poetik der (un-)sichtbaren Übersetzung
ОглавлениеVor gut 25 Jahren beklagte Lawrence Venuti (1995) die Unsichtbarkeit der Übersetzer:innen, und Beispiele für solche oftmals strategischen Invisibilisierungen gibt es in der Tat zuhauf. Die Namen von Übersetzer:innen werden auf den meisten Buchcovern nicht genannt und in vielen Rezensionen finden sie allenfalls dann Erwähnung, wenn es um Erwartungen an sprachliche Flüssigkeit und Transparenz geht.1 Die für die kritische Reflexion von Übersetzungen relevanten Fragen, z.B. nach kreativen Veränderungen, ästhetischen Neuerungen und Funktionen innerhalb der Zielkultur, werden nur selten gestellt. Werden diese Fragen thematisiert, dann zumeist im Fall von Neuübersetzungen klassischer und kanonischer Literatur, selten aber bei der Besprechung von zeitgenössischer übersetzter Literatur. Diese Unsichtbarkeit setzt sich auf der Ebene des Textes fort. Der internationale Buchmarkt prämiert vor allem im Bereich des Mainstreams transparente, geschmeidige und leserfreundliche Literatur, die ihren übersetzten Charakter verschleiert und die Illusion erweckt, sie hätte ebenso gut in der Zielsprache verfasst werden können. Solche domestizierenden und glättenden Übersetzungen, die tatsächlich erhebliche Eingriffe durch Übersetzer:innen erfordern, reflektieren implizit bestehende Hierarchien zwischen Sprachen, denn im globalen Geflecht wird die kulturelle Dominanz von Sprachen auch durch den Eindruck ihrer schier grenzenlosen Assimilationsfähigkeit gefestigt. Immer noch haftet der Übersetzung ein Stigma an; Venuti spricht sogar vom ‚Skandal der Übersetzung‘. Übersetzung wird als minderwertige, unkreative und bloß derivative Praxis abgetan, die aber doch immensen Einfluss auf die Wahrnehmung anderer Kulturen nimmt (vgl. 1998: 1–4).
Seit der Veröffentlichung von Venutis The Translator’s Invisibility: A History of Translation (1995) hat sich Einiges getan und es gibt Anzeichen dafür, dass Übersetzungen und Übersetzer:innen nicht ganz so unsichtbar sind, wie von dem amerikanischen Übersetzungswissenschaftler nahegelegt. Venutis Thesen von der Unsichtbarkeit der Übersetzung wurden vielfach kritisch kommentiert – nicht zuletzt von ihm selbst (vgl. Venuti 2008) – und in diesem Zusammenhang maßgeblich relativiert. Verschiedentlich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass seine Behauptung der Unsichtbarkeit eben dezidiert mit Blick auf die Besonderheiten des amerikanischen Buchmarktes formuliert wurde und sie sich daher kaum problemlos auf andere Kontexte übertragen ließe.2 Anders als etwa in Deutschland, Italien, Frankreich, Brasilien oder Indien spielen Übersetzungen auf dem amerikanischen Buchmarkt tatsächlich eine vergleichsweise geringe Rolle. Während Übersetzungen in Erstauflage auf dem deutschen Buchmarkt im Jahr 2019 immerhin 12,45 % aller Publikationen ausmachten, lag der Wert in den USA bei nur ca. 3 % (vgl. Neumann 2021).3 Die viel beschworene ‚Bibliodiversität‘, die eine Möglichkeit der Erfahrbarkeit sprachlicher und kultureller Alterität bietet, ist damit recht niedrig. Aber auch in den USA sind Übersetzer:innen und Übersetzungen längst nicht mehr unsichtbar; gerade in den letzten Jahren sind viele übersetzte Werke aus ihrem Schattendasein hervorgetreten. Der Trend zur zunehmenden Monopolisierung des internationalen Buchmarktes durch die sogenannten ‚Großen Fünf‘ (gemeint sind Hachette, Harper Collins, Macmillan, Penguin Random House und Simon and Schuster) geht mit einer gegenläufigen Entwicklung einher, nämlich der Herausbildung etlicher unabhängiger Verlagshäuser, die, wie etwa Granta Books und Portobello Books, gerade auf den symbolischen Wert übersetzter Literaturen bauen (vgl. Thompson 2010; Vermeulen/Hurkens 2019).
Es gibt also auch eine andere Geschichte der Übersetzung, eine Geschichte der Sichtbarkeit, Profilierung und Agentialität – und diese Geschichte, eingeschlossen ihrer verschiedenen Theorien und Praktiken, will der vorliegende Sammelband exemplarisch mit Blick auf die Zielsprache Deutsch ins Zentrum stellen. Der Fokus liegt dabei auf textuell generierten Formen der Sichtbarkeit, die in der Agentialität der Übersetzer:innen gründet. Um dieser Sichtbarkeit auf die Spur zu kommen, lohnt ein Blick auf die Vieldeutigkeiten, die dem Begriff selbst eingeschrieben sind. Der Begriff ‚Übersetzung‘ impliziert nämlich nicht nur Bewegung; vielmehr ist er selbst ein paradigmatisches travelling concept (vgl. Bal 2002), ein Konzept, das zwischen verschiedenen Disziplinen, Ansätzen und Wissenschaftskulturen reist. Diese ‚Reisen‘ lenken den Blick auf semantische Polyvalenzen sowie die transformativen Dimensionen von Austausch und Relokation. Abgeleitet von dem altgriechischen Begriff metaphrásein (‚paraphrasieren‘, ‚übersetzen‘) lässt sich ‚Übersetzen‘ als Transfer „eines mobilen Guts von einem Ufer zum anderen“ (Borsò 2014: 32) verstehen und damit die Übertragung bzw. Setzung von Bedeutung akzentuieren.4 Aber gemäß der Etymologie lässt sich auch das ‚über‘ betonen, und aus dieser Perspektive stellt sich der Akt der Übersetzung als viel dynamischer, sogar als überbordend dar, nämlich „als Herausforderung der Bewegung“ (ebd.) zwischen Sprachen, zwischen Texten und Kulturen. Ins Blickfeld geraten dabei die wechselseitigen Verstrickungen, Veränderungen und Neuformationen des Eigenen und Fremden bzw. des Wörtlichen und Figürlichen, auf die der Begriff metaphrásein verweist (vgl. Cheyfitz 1991). Übersetzungen lassen sich als offene Prozesse der Bedeutungsübertragung verstehen, bei denen durch sprachliche Kreativität, semantischen Transfer und Verknüpfung Neues, also ein Drittes, entsteht. Sie bringen Veränderungen und ‚Ver-anderungen‘ hervor, die über Bestehendes hinausgehen und die beide durch sie ins Spiel gebrachte Sprachen in Bewegung versetzen. Impliziert sind damit die Instabilität und Polyvalenz innerhalb jeder einzelnen Sprache, „[t]he existence of two languages within a single language“ (Guldin 2016: 20), die den Wechsel und Übergang zwischen dem Wörtlichen und Figürlichen allererst ermöglicht.
Aber dass die der Etymologie eingeschriebene Dichotomie – zwischen dem Eigenen und dem Wörtlichen auf der einen Seite und dem Fremden, Figürlichen und Uneigentlichen auf der anderen – Übersetzungen auch in die Nähe von Verfälschungen und Manipulationen rückt, liegt auf der Hand. Die Übersetzungsgeschichte liefert dafür zahlreiche Beispiele, insbesondere im Kontext von Kolonialgeschichten, Krieg und globalen Machthierarchien, wo bewusst entstellende Übersetzungen strategisch zur Enteignung, Assimilation und Stigmatisierung anderer Gruppen eingesetzt wurden. Die italienische Formel „traduttore / traditore“ versinnbildlicht, wie eng Übersetzung und Verrat beieinander liegen. Zwischen Verrat, Entstellung und Fehlübersetzungen auf der einen Seite und der notwendigen Offenheit, Transformationskraft und Kreativität der Übersetzung auf der anderen tut sich ein breites Spektrum sprachlicher Entscheidungsmöglichkeiten auf. Dieses so zu nutzen, dass die Singularität und Differenz anderssprachiger Texte einerseits gewahrt und anerkannt, Differenz andererseits im Kontext vorhandener Sprach- und Wissensstrukturen vermittelbar und sogar verständlich wird, ist eine zentrale Aufgabe der Übersetzung. Als Praxis des „Sowohl-Als-Auch“ bleibt die Übersetzung auf paradoxe Weise „mit einem Weder-Noch“ verbunden (Ette 1998: 22).
Die Transformationskraft von Übersetzungen, um die es diesem Band geht, hat viel mit Differenzen zwischen Sprachen und dem Fehlen von Äquivalenz zu tun, die u.a. von Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1923) beschrieben wurde. Sprachen sind im kulturellen Imaginären verortet und historisch gewachsen; sie bestehen aus kulturell spezifischen Konzepten, die auch im Laufe ihrer Geschichte Bedeutungen, Denotationen und Konnotationen erworben haben, die sich der vollständigen Übersetzbarkeit entziehen. Sie weisen spezifische grammatikalische Strukturen, konkrete Klänge und Rhythmen auf, die, wie es Christine Ivanovic in ihrem Beitrag zum Band formuliert, „sinnlich-sinnlos“ bleiben. Die ästhetische Verdichtung fiktionaler Literatur steigert notwendigerweise die Offenheit und Unbestimmtheit von Sprache. Literarische Formen führen semantische Mehrdeutigkeiten ein, die schon das sogenannte Original bzw. den Ausgangstext mit Überschuss, Irritation und Instabilität versehen und die jede Lektüre zu einem vorläufigen und subjektiven Akt der Bedeutungskonstitution werden lassen. „[A]lle Übersetzung“, schreibt Benjamin (1977: 55), ist „nur eine irgendwie vorläufige Art […], sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen.“ Annäherung, Ähnlichkeiten, Äquivalenz ‚ohne Identität‘ (vgl. Ricœur 2004) sowie ‚Wirkungsäquivalenz‘5 sind daher einige der Begriffe, die in der Übersetzungstheorie die Diskussion um das angemessene Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext prägen. Sie unterstreichen, dass Übersetzungen stets auch Interpretationen sind, die auf subjektiven Lektüren gründen (vgl. Spivak 2009: 205) – die Translation Studies sprechen sogar von einer Neuschaffung bzw. einem „Rewriting“ (Lefevere 1992; vgl. Bassnett 2014: 3).
Die besondere Herausforderung der Übersetzung besteht vielleicht gerade in diesem „quand même“ (Apter 2009: 86), nämlich in der Bereitschaft, sich auf die semantischen, ästhetischen und materiellen Partikularitäten eines Textes einzulassen, sie in einen relevanten Bezug zu einer anderen Sprache zu stellen6 – und dabei doch gleichzeitig zu wissen, dass man ihnen nur ansatzweise gerecht werden kann. Offenheit, Instabilität und Fremdheit innerhalb der sowie zwischen den Sprachen entbinden daher nicht von der Aufgabe der Übersetzung; vielmehr sind sie eine Ressource und ermöglichen, wie Benjamin darlegt, erst die Übersetzbarkeit von Literatur: Sie laden ein zur Verhandlung von Mehrdeutigkeiten, die gerade auch im Lichte historisch geprägter Wissensordnungen nach variablen Aktualisierungen verlangen. Jede neue Übersetzung ist daher Zeugnis für die Übersetzbarkeit des Ausgangstextes; paradoxerweise zeigt sie zugleich dessen Unübersetzbarkeit an, denn sie markiert Vorläufigkeit und weist ihrerseits auf kommende Übersetzungen voraus (vgl. Hermans 2014: 61). Erst solche ständigen übersetzerischen Neudeutungen sichern bekanntlich das ‚Fortleben‘ – und eben auch die potentielle Sichtbarkeit – des Ausgangstexts; sie schaffen zugleich mehrdimensionale Temporalitäten, die konventionelle Vorstellungen von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit durchkreuzen.7 „[J]e ne crois pas que rien soit jamais intraduisible – ni d’ailleurs traduisible“, schreibt Jacques Derrida (2005: 19), und macht damit deutlich, dass das Unübersetzbare eben nicht das Gegenteil der Übersetzbarkeit bezeichnet, sondern es oftmals erst einen Raum für Interaktion, Verquickung und Verhandlung eröffnet. Ganz ähnlich betont Barbara Cassin, Initiatorin und Herausgeberin des groß angelegten Vocabulaire européen des philosophies: Dictionnaire des intraduisibles (2004), dass das Unübersetzbare nicht das ist, das nicht übersetzt werden kann. Vielmehr fordert es zu immer neuen Übersetzungen auf und verweist damit auf das Offene und Unfertige: „l’intraduisible, c’est plutôt ce qu’on ne cesse pas de (ne pas) traduire.“ (2004: xxvii) Die Unübersetzbarkeit wird dort zur Chance und felix culpa (vgl. Borsò 2006: 15), wo sie eine Anerkennung der Einzigartigkeit anderer Sprache möglich macht, ohne auf strikte Binäroppositionen und starre Grenzziehungen zwischen dem sogenannten ‚Eigenen‘ und ‚Anderen‘ zurückzufallen (vgl. Wetzel 2003: 154).
Die Offenheit und bisweilen sogar Unübersetzbarkeit von Sprache stellt Übersetzer:innen vor hermeneutische und sprachliche Entscheidungen, die bedeutungskonstitutiv sind und die Wahrnehmungsmöglichkeiten anderer historischer und kultureller Kontexte, auch hinsichtlich möglicher Gemeinschaftserfahrungen, maßgeblich prägen. Übersetzer:innen aktualisieren – auch auf der Grundlage subjektiver Deutungen, kulturhistorisch geprägter Wissensordnungen und Marktanforderungen – spezifische semantische, formale und materielle Potentialitäten des Ausgangstextes (vgl. Venuti 1995: 18). Aktualisierungen implizieren aber stets Ausschlüsse und Verwerfungen, auch wenn diese als latenter Überschuss bestehen bleiben. Die Forderung nach der Sichtbarkeit von Übersetzungen und Übersetzer:innen lässt sich auch aus dieser bedeutungs- und wahrnehmungsstiftenden Dimension ableiten: Sprache bildet keine vorgängige Realität ab; vielmehr ist sie eine Form der Welterschließung, die sinnstiftende Bezugnahmen auf die Welt ermöglicht. Sichtbarkeit, so die Prämisse des Bandes, ermöglicht ein Reflexivwerden jener sprachlichen Entscheidungsprozesse, welche die in überdeterminierten Texten angelegten Deutungsmuster in der Gegenwart präsent machen bzw. aktualisieren und das Spektrum kulturell möglicher Weltbezüge, eingeschlossen von Vergangenheitsdeutungen und Zukunftsvisionen, präfigurieren. Gerade auch aus dieser erinnerungsstiftenden Funktion von Übersetzungen, die zugleich Ermöglichungsbedingungen für Gegenwarts- und Zukunftsentwürfe sind, ergeben sich weitreichende ethische Fragen, die den Umgang mit sprachlicher Alterität betreffen. Sandra Berman (2005: 7) betont: „If we must translate in order to emancipate and preserve cultural pasts and to build linguistic bridges for present understandings and future thoughts, we must do so while attempting to respond ethically to each language’s contexts, intertexts, and intrinsic alterity.“ Übersetzungen, so Berman, antworten aus der Perspektive gegenwärtiger Bedingungen auf die Anforderungen anderer Texte, Sprachen und ihrer spezifischen Kontexte; sie bauen Brücken, die bei aller Fragilität doch intellektuellen Austausch, Transposition und Passagen ermöglichen (vgl. Bhabha 1994). Dass Antworten auf die Anforderungen und Anrufungen Anderer eine ethische Dimension haben, liegt auf der Hand. Für Arvi Sepp (2017: 63) beinhaltet die übersetzerische Antwort daher zugleich einen Akt der Verantwortungsübernahme: Die Übersetzung „übernimmt Verantwortung, indem sie die Ansprache durch den Anderen beantwortet.“ Sie übernimmt aber auch Verantwortung, indem sie die Ermöglichungsbedingungen und Voraussetzungen offenlegt, die dieser Antwort zugrunde liegen – und es ist diese Offenlegung, die Leser:innen die Möglichkeit bietet, entsprechende Entscheidungen mitzutragen oder sie zu hinterfragen.